Sunday, November 29. 2015
NICHT FLORENCE, ABER MODERNER SISYPHOS
Ich bin nicht wie der alte Grieche, der immer die Felsen den Berg rauf rollte. Dieser Sisyphos. Wenn ich oben bin mit dem Stein, dann bin ich glücklich. Genauer betrachtet ist er aber der Glücklichere.
Wie war das noch? Früher waren sich bei uns im Betrieb alle Grüppchen und Clübchen untereinander spinnefeind? Na, dann hat das ja schon Tradition.
ABEL hatte doch auch mal einen anderen Chef. Wie hieß der noch? Marquardt, glaube ich. Eigentlich ein schöner Hundename, Marquardt. Der alte Chef war ja wohl auch ein Hund. Er soll sich ja ziemlich viele Feinde gemacht haben. Und dann hat ihn sogar jemand umgenietet. Einfach so. Oder ist er freiwillig aus dem Fenster gegangen? Glück im Unglück würde ich nennen, dass er gleich tot war. Obwohl ABEL ja recht hoch verortet ist, siebenter Stock kann auch schon mal schief gehen, hab ich mir sagen lassen. Da wäre er dann sein eigener Klient geworden.
Wenn die Leute mich fragen, wo ich arbeite, und ich sage: bei ABEL, dann lachen sie jedes Mal. „Kain und Abel?“ ist die unweigerlich folgende Standardfrage. Ich sollte sagen: ja, jeder sein eigener Kain. Aner ich bin ja vernünftig und erkläre, stereotyp und ohne große Schnörkel, ABEL steht für „Anders mit Behinderung leben“, um sogleich die Frage zu ernten: Wo ist denn das „m“ für „mit“? In dem Maul, das du jetzt mal halten kannst, könnte ich sagen. Aber ich halte dann lieber meines.
Tina hat zweimal den Atem angehalten. Sie hat nicht gemerkt, dass ich es gesehen habe, und es dann sein lassen. Jetzt baut sie an einem Turm, der gleich umfallen wird.
Gleich ist Große Pause und die Kinder dürfen schon spielen, wenn sie mit dem Arbeiten fertig sind. Das Geräusch fallender Holzfarbstifte. Hier und da ein Kichern. Eine guter Tag für einen Rückblick.
Welche Geschichten sich überhaupt lohnen erzählt zu werden, weiß ich nicht. Ich kenne Dutzende. Man weiß ja auch nie, welche Momente der Gegenwart in der Zukunft als historische bezeichnet werden.
Eins ist jedenfalls klar. Es steht sogar felsenfest. Wenn ich früher von der Arbeit kam, war ich glücklich, dass es vorbei war.
Und das obwohl ich wusste, dass es am nächsten Tag im selben Tenor weiter ginge, und obwohl ich Sigrun Möller wirklich gern hatte. Sie hat mich gequält, das war mir bewusst. Aber sie quälte in erster Linie sich selbst.
Morgens kam ich bewusst mit einem guten Gefühl zu ihr, um noch Distanz zu schaffen. Denn ich duschte vorher – vor ihr – egal wie früh ich dafür raus musste und ob ich am Vortag bereits geduscht hatte.
Ich packte auch sorgsam all das Zeug, das ich brauchte, sieben Kilo schwer, denn ich musste Schuhe, Wechselkla-motten und Handtücher, Essen und Trinken mitnehmen. Und wenn ich vor der Tür feststellte, dass ich fünf Minuten zu früh war, wartete ich. Es hatte keinen Sinn, eher zu klingeln, man hätte mir nicht geöffnet.
Um Punkt sieben klingelte ich dann, in Erwartung eines "Ja" aus der Sprechanlage; es ließ oft auf sich warten, dann aber: "Ja?"
"ABEL“, versuche ich es so fröhlich wie möglich.
Seit kurzem begrüßte ihre Mutter mich auch so freundlich sie konnte, wenn ich durch die Wohnungstür trat; aber dann verschwand sie rasch wieder im Schlafzimmer, als hätte sie etwas Verbotenes getan.
Schuhe wechseln, und ich ging ins Bad, Hände waschen, um anschließend die Übergabe lesen. Die schneidende Luft sagte mir dann meist schon, dass ihre Mutter es lieber hätte, ich würde ihr mit Sigrun helfen.
Natürlich korrigierte die Mutter dann oft etwas, das ich tat, und ich sagte "OK". Schließlich wollte ich die Übergabe lesen gehen. Aber sie stoppte mich:
"Kannst du bitte den Beutel leeren?"
Dann verließ sie augenblicklich das Zimmer. Die Worte klangen zivilisiert, aber der Tonfall sagte mir, dass ich da ja auch selber hätte drauf kommen können.
Ich ging und holte das Equipment. Nicht mehr als drei Blättchen Klopapier, sonst gab es Grund zur Kritik. Und bloß nicht fallen lassen, denn Sigrun beobachtete mich mit Argusaugen im Spiegel.
Inzwischen war die Mutter wohl noch einmal herein gekommen und hatte das Fenster zum Lüften geöffnet. Schnee strahlte weiß durch das Fenster herein. Bestimmt war Sigrun das bald zu kalt.
Ich sagte ihr, wie viele Milliliter im Beutel waren, keine Rückmeldung. Hatte sie verstanden? Wenn ich es erst hinterher sagte, wenn ich zurückkam, dann tadelte sie mich jedes Mal. So musste ich annehmen, dass sie mich gehört hatte. Ein Nachfragen beim Zurückkommen würde ein genervtes "Hast du deine Hände desinfiziert?" nach sich ziehen. Dabei war es schon vorgekommen, dass sie es nicht gehört hatte.
Ich wollte noch immer die Übergabe lesen.
"Kannst du mal das Fenster zumachen?"
"Mal" geht für "bitte", das sagen viele.
Ich begab mich zum Fenster, versuchte so geschickt wie möglich am Bett vorbei zu kommen.
"Heizung auf 3?", fragte ich leise.
"Dreieinhalb", antwortet sie. Tja. Hätte ich gefragt: Drei-einhalb? hätte sie gesagt: auf 3.
Ich kam zurück zu ihr.
"Wir suchen noch einen Waschlappen aus."
Oh. Da hinten war ich doch gerade. Na gut. Ich drängelte mich wieder am Bett vorbei, holte den Stapel Waschlappen aus dem Schrank, kam damit zu ihr, dass sie ihn sehen konnte.
Sie betrachtete den Stapel einen Moment lang.
"Ich nehme den gelben."
Ich zeigte drauf, sie nickte, ich holte ihn aufwendig heraus, ohne den Rest fallen zu lassen, und legte der erwählten auf den Beistelltisch (eine dritte Hand wäre gut).
Als ich im Begriff war, den Rest-Stapel zurückzubringen, sagte sie: "Ach, warte mal. Ich suche doch erst ein Hand-tuch aus."
Na, wer hätte das gedacht?
Ich kehrte um, stellte den Stapel Waschlappen auf den Beistelltisch – bloß nicht runter werfen – und ging die Handtücher holen. Ich nahm so viele ich nur tragen konnte, eine bunte Auswahl an Farben, kam zurück und hielt sie ihr hin.
Sie betrachtete sie eine Weile.
"Sind da keine anderen?" Zum Glück hattee ich mir das einigermaßen gemerkt.
"Da sind nur noch grüne und blaue wie diese." Ich zeigte auf die Handtücher. „Und gelbe wie dieses."
"Hm", machte sie. "Wo ist denn das Rote mit der Borte?"
"Keine Ahnung", sagte ich, den Stapel Handtücher balan-cierend. Mein Rücken meldete sich.
"Welches möchtest du?" fragte ich. Sie schwieg.
"Das Blaue", sagte sie nach einer Weile leicht genervt. Ich zeigte auf das mittlere, sie schüttelte den Kopf. Ich zeigte mit Mühe auf das unterste und sie nickte. Na endlich. Ich brachte rasch den Stapel zurück und widmete mich den Waschlappen.
"Ich nehme dann aber den hellblauen Waschlappen."
Natürlich. Ich legte den gelben wieder auf den Stapel, nahm den hellblauen aus dem Stapel, legte ihn auf den Tisch und fing schon an zu schwitzen, als ich den Stapel wegschaffte. Als nächstes Ihre Anziehsachen holen, sagte ich mir den Ablauf im Kopf vor. Und die Übergabe end-lich lesen.
"Kannst du mir Creme auf die Lippen geben", sagte sie, als ich an der Tür war. Ich ging zu ihrem Kopfende und nahm die kleine Tube vom Regal.
"Von der dicken", sagte sie. Das machen wir doch sonst nach dem Duschen, dachte ich, legte aber die kleine Tube wieder weg und ging zum Schrank. Ich nahm mir einen Handschuh und brachte die große Tube zum Bett, verteilte etwas Creme vorsichtig auf ihren Lippen.
"Gut?", fragte ich. Sie nickte und ich wollte den Hand-schuh schon ausziehen.
"Noch etwas in die Mitte", sagte sie.
Von der Dusche her kam lautes Wasserrauschen. Die Mutter duschte ganz offensichtlich. Das Bad konnte ich also noch nicht so bald vorbereiten.
Ich ging die große Tube Creme wegschaffen und holte die Kleidung aus dem Wohnzimmer. Mieni Blick fiel auf das Übergabebuch. Gleich!
Kaum war ich zurück, fragte sie: "Kannst du mir ein Eukalyptusbonbon holen?" Das ist ihr eingefallen, weil sie mich ins Wohnzimmer hat gehen hören, dachte ich.
Ich legte die Kleidung auf ihr Bett – das mochte sie nicht, aber sie sagte nichts – und dachte mir auf dem Weg ins Wohnzimmer, ich hätte fragen sollen, ob sie ein Bonbon will. Aber im Grunde war das sinnlos, das wusste ich, wenn ich gefragt hätte, weil sie dann nämlich keines gewollt hätte.
Ich kam zurück und zeigte ihr die Kleidung vom Vortag, allen voran die Socken. Sie nickte. Hieß das jetzt, sie will sie generell noch anziehen? Ich hielt sie weiter hoch und fragte:
"Anziehen oder nur bis zum Duschen?"
"Bis zum Duschen."
OK, dachte ich, dann also auch Socken aussuchen. Ich legte die Bis-zum-Duschen-Socken hin und zeigte ihr das Unterhemd.
"Wäsche."
"Alles klar", sagte ich, legte das Hemd zur Seite und hielt den Slip hoch.
"Wäsche", sagte sie erwartungsgemäß. Ich legte den Slip zum Hemd und hielt ihr den Pulli hin.
"Auf den Bügel", sagt sie.
Ich fummelte den Pulli auf den Bügel, auf dem schon eine Hose und ein Spaghetti-Träger-Hemd hingen, vorsichtig bemüht nichts runter zu schmeißen. Geschafft. Rasch räumte ich die Unterwäsche in den Wäschekorb.
"Hose?" fragte ich dann und halte ihr die ebenfalls hin.
"Anziehen", sagte sie. Ich legte die Hose hin und machte die Schubladen auf, um ihr Unterwäsche zu zeigen. Bei den Unterhosen entschied sie sich für Pink.
"Ich ziehe doch den Pulli an", sagte sie, als ich ihr die Unterhemden zeigte. Ich durfte die Binde nicht vergessen. Ach, und die verdammte Übergabe!
"Oh", sagte ich, machte die Schublade wieder zu und fummelte den Pulli wieder vom Bügel.
"Dann ziehe ich auch noch mal das Unterhemd an." sagte sie. Auf mein "Das habe ich schon in den Wäschekorb geworfen", erntete ich ein entnervtes Stöhnen. So blöd, sagte das Stöhnen, so blöd bist du.
"Soll ich es wieder rausholen?" fragte ich, und überlegte, was wir denn jetzt erreicht haben in den letzten 15 Minu-ten. Und die Binde, Herrschaftszeiten.
"Nein", sagte sie, "aber ohne das Unterhemd kann ich den Pulli nicht anziehen. Die andere gucken vor." Das klang zu logisch um Schikane zu sein, als fummelte ich den Pulli wieder auf den Bügel.
Ich klinkte mich aus und ließ den weiteren 'Ich-such-meine-Anziehsachen-aus"-Stress, den sie sich machte, ungerührt über mich ergehen. Ich dachte an eine Geschich-te, an der ich gerade schrieb, an den grandiosen Film, den ich am Vorabend gesehen hatte.
Mechanisch legte ich die Sachen, die sie endlich ausge-sucht hatte, bereit. War das hier jetzt erledigt? Und dear die Mutter aus der Dusche? Konnte ich jetzt ins Bad, um die Dutzend Sachen dort vorzubereiten? Schließlich hatte die Mutter noch nicht Frühstück gemacht. Und Saft wollte Sigrun sich auch noch aussuchen, vor der Bewegung. Das muss ich also auch noch erledigen.
Aber hörte ich den Fön, just als ich fragen wollte, ob ich ins Bad gehen sollte.
"Soll ich Frühstück machen", fragte ich, weil ich sehen konnte, dass ihr das nicht passt, dass die Mutter noch nicht fertig war. Sie denkt schon wieder daran, dass die Heizung nicht rechtzeitig auf 4 steht, wenn im Bad noch gelüftet muss, wusste ich.
"Wir holen jetzt mal mein Notizbuch", sagt sie. Wir? Aha. Ich ging los. Zu fragen, woher diese Wende kam, hätte eh keinen Sinn gehabt. Als ich mit dem Notizbuch kam, hatte ich in weiser Voraussicht den Kuli dabei; dennoch schickte sie mich noch mal los.
"Und das Telefon?" Das hätte ich schließlich wissen könne, sagte ihr Blick.
Wir überstanden die Telefon-Geschichte und die Notizen für den Spät-Dienst, indem meine Gedanken wieder abwi-chen. Ach du lieber Himmel, die Binde, fiel mir ein. Die Übergabe hatte schon kaum noch Stellenwert.
"Wir müssen noch", begann ich, aber Sigrun fiel mir ins Wort, was ich ja schon kannte. Ich atmete tief durch.
"Machst du grad Frühstück? Knuspermüsli, zwei Cappuc-cino wie immer."
Ach, jetzt doch. OK.
"Ja", sagte ich ohne Umschweife. Kaum war ich aus der Tür, rief sie mir nach: "Nimm das Notizbuch wieder mit!" Ich kam zurück, nahm Buch und Kuli.
"Den Kuli kannst du da lassen!"
Ich ließ ihn also da. Ging wieder zur Tür. Da fiel mir wieder die Binde ein. Erst schaffe ich jetzt aber das Notiz-buch weg und mache das Frühstück, gleich kommt sonst die Mutter aus dem Bad, und dann bin dort beschäftigt.
Ich eilte mich, alles zu erledigen und kam zurück.
"Holst du bitte meinen schwarzen Kalender?"
Das hätte ich mir auch denken können, wenn sie den Kuli behalten wollte.
"Leg ihn bitte mit dem Kuli zusammen auf den Beistell-tisch.“
Jetzt aber! Ich erinnerte sie an die Binde, und sie reagierte prompt genervt, demonstrierte, dass sie mir böse ist, weil ich nicht eher daran gedacht hatte.
Ich klebte die Binde auf 2,5 cm über den Steg. Jede Wette, heute sind es wieder 2 cm. Und richtig, sie mahnte mich zur Korrektur.
Während sie die Bindenlage erneut prüfte und ein wohl-wollend klingendes "Ja, jetzt stimmt's" von ihr kam, brach-te die Mutter das Tablett mit dem Frühstück herein, ganz so, als hätte sie es zubereitet.
Eine Stunde war erst um, sah ich auf der kleinen Uhr vom Beistelltisch, als ich die Unterhose zusammenlegte.
"Räumst du bitte die Sachen weg", sagte die Mutter und guckte stirnrunzelnd Kalender und Kuli an, weil sie das Tablett nicht abstellen konnte. Eine Stunde von sieben, wohlbemerkt.
Wenige Monate später war Sigrun tot, sie hatte es doch noch geschafft, zu beenden, was sie angefangen hatte. Bei ABEL war dieser Suizid keine Supervision wert. So viel zum Betriebsklima. Und der neue Chef taugt auch nicht in die Suppe. Warum eigentlich nicht?
Inzwischen bin ich nicht mehr nur glücklich, wenn die Arbeit vorbei ist. Ich bin auch glücklich, wenn ich hinfahre und sogar während der Arbeit. Denn inzwischen arbeite ich an einer Schule.
Ich begriff, dass wir früher anfangen müssen, bei den Kindern. Schule ist unser Weg zu einem Verhältnis auf Augenhöhe. Deshalb bin ich hier, und das Lachen vor der Tür verstärkt sich. Tina macht wieder den Clown. Die Pause ist noch nicht mal zu Ende.
© Für BB
In memoriam
Wie war das noch? Früher waren sich bei uns im Betrieb alle Grüppchen und Clübchen untereinander spinnefeind? Na, dann hat das ja schon Tradition.
ABEL hatte doch auch mal einen anderen Chef. Wie hieß der noch? Marquardt, glaube ich. Eigentlich ein schöner Hundename, Marquardt. Der alte Chef war ja wohl auch ein Hund. Er soll sich ja ziemlich viele Feinde gemacht haben. Und dann hat ihn sogar jemand umgenietet. Einfach so. Oder ist er freiwillig aus dem Fenster gegangen? Glück im Unglück würde ich nennen, dass er gleich tot war. Obwohl ABEL ja recht hoch verortet ist, siebenter Stock kann auch schon mal schief gehen, hab ich mir sagen lassen. Da wäre er dann sein eigener Klient geworden.
Wenn die Leute mich fragen, wo ich arbeite, und ich sage: bei ABEL, dann lachen sie jedes Mal. „Kain und Abel?“ ist die unweigerlich folgende Standardfrage. Ich sollte sagen: ja, jeder sein eigener Kain. Aner ich bin ja vernünftig und erkläre, stereotyp und ohne große Schnörkel, ABEL steht für „Anders mit Behinderung leben“, um sogleich die Frage zu ernten: Wo ist denn das „m“ für „mit“? In dem Maul, das du jetzt mal halten kannst, könnte ich sagen. Aber ich halte dann lieber meines.
Tina hat zweimal den Atem angehalten. Sie hat nicht gemerkt, dass ich es gesehen habe, und es dann sein lassen. Jetzt baut sie an einem Turm, der gleich umfallen wird.
Gleich ist Große Pause und die Kinder dürfen schon spielen, wenn sie mit dem Arbeiten fertig sind. Das Geräusch fallender Holzfarbstifte. Hier und da ein Kichern. Eine guter Tag für einen Rückblick.
Welche Geschichten sich überhaupt lohnen erzählt zu werden, weiß ich nicht. Ich kenne Dutzende. Man weiß ja auch nie, welche Momente der Gegenwart in der Zukunft als historische bezeichnet werden.
Eins ist jedenfalls klar. Es steht sogar felsenfest. Wenn ich früher von der Arbeit kam, war ich glücklich, dass es vorbei war.
Und das obwohl ich wusste, dass es am nächsten Tag im selben Tenor weiter ginge, und obwohl ich Sigrun Möller wirklich gern hatte. Sie hat mich gequält, das war mir bewusst. Aber sie quälte in erster Linie sich selbst.
Morgens kam ich bewusst mit einem guten Gefühl zu ihr, um noch Distanz zu schaffen. Denn ich duschte vorher – vor ihr – egal wie früh ich dafür raus musste und ob ich am Vortag bereits geduscht hatte.
Ich packte auch sorgsam all das Zeug, das ich brauchte, sieben Kilo schwer, denn ich musste Schuhe, Wechselkla-motten und Handtücher, Essen und Trinken mitnehmen. Und wenn ich vor der Tür feststellte, dass ich fünf Minuten zu früh war, wartete ich. Es hatte keinen Sinn, eher zu klingeln, man hätte mir nicht geöffnet.
Um Punkt sieben klingelte ich dann, in Erwartung eines "Ja" aus der Sprechanlage; es ließ oft auf sich warten, dann aber: "Ja?"
"ABEL“, versuche ich es so fröhlich wie möglich.
Seit kurzem begrüßte ihre Mutter mich auch so freundlich sie konnte, wenn ich durch die Wohnungstür trat; aber dann verschwand sie rasch wieder im Schlafzimmer, als hätte sie etwas Verbotenes getan.
Schuhe wechseln, und ich ging ins Bad, Hände waschen, um anschließend die Übergabe lesen. Die schneidende Luft sagte mir dann meist schon, dass ihre Mutter es lieber hätte, ich würde ihr mit Sigrun helfen.
Natürlich korrigierte die Mutter dann oft etwas, das ich tat, und ich sagte "OK". Schließlich wollte ich die Übergabe lesen gehen. Aber sie stoppte mich:
"Kannst du bitte den Beutel leeren?"
Dann verließ sie augenblicklich das Zimmer. Die Worte klangen zivilisiert, aber der Tonfall sagte mir, dass ich da ja auch selber hätte drauf kommen können.
Ich ging und holte das Equipment. Nicht mehr als drei Blättchen Klopapier, sonst gab es Grund zur Kritik. Und bloß nicht fallen lassen, denn Sigrun beobachtete mich mit Argusaugen im Spiegel.
Inzwischen war die Mutter wohl noch einmal herein gekommen und hatte das Fenster zum Lüften geöffnet. Schnee strahlte weiß durch das Fenster herein. Bestimmt war Sigrun das bald zu kalt.
Ich sagte ihr, wie viele Milliliter im Beutel waren, keine Rückmeldung. Hatte sie verstanden? Wenn ich es erst hinterher sagte, wenn ich zurückkam, dann tadelte sie mich jedes Mal. So musste ich annehmen, dass sie mich gehört hatte. Ein Nachfragen beim Zurückkommen würde ein genervtes "Hast du deine Hände desinfiziert?" nach sich ziehen. Dabei war es schon vorgekommen, dass sie es nicht gehört hatte.
Ich wollte noch immer die Übergabe lesen.
"Kannst du mal das Fenster zumachen?"
"Mal" geht für "bitte", das sagen viele.
Ich begab mich zum Fenster, versuchte so geschickt wie möglich am Bett vorbei zu kommen.
"Heizung auf 3?", fragte ich leise.
"Dreieinhalb", antwortet sie. Tja. Hätte ich gefragt: Drei-einhalb? hätte sie gesagt: auf 3.
Ich kam zurück zu ihr.
"Wir suchen noch einen Waschlappen aus."
Oh. Da hinten war ich doch gerade. Na gut. Ich drängelte mich wieder am Bett vorbei, holte den Stapel Waschlappen aus dem Schrank, kam damit zu ihr, dass sie ihn sehen konnte.
Sie betrachtete den Stapel einen Moment lang.
"Ich nehme den gelben."
Ich zeigte drauf, sie nickte, ich holte ihn aufwendig heraus, ohne den Rest fallen zu lassen, und legte der erwählten auf den Beistelltisch (eine dritte Hand wäre gut).
Als ich im Begriff war, den Rest-Stapel zurückzubringen, sagte sie: "Ach, warte mal. Ich suche doch erst ein Hand-tuch aus."
Na, wer hätte das gedacht?
Ich kehrte um, stellte den Stapel Waschlappen auf den Beistelltisch – bloß nicht runter werfen – und ging die Handtücher holen. Ich nahm so viele ich nur tragen konnte, eine bunte Auswahl an Farben, kam zurück und hielt sie ihr hin.
Sie betrachtete sie eine Weile.
"Sind da keine anderen?" Zum Glück hattee ich mir das einigermaßen gemerkt.
"Da sind nur noch grüne und blaue wie diese." Ich zeigte auf die Handtücher. „Und gelbe wie dieses."
"Hm", machte sie. "Wo ist denn das Rote mit der Borte?"
"Keine Ahnung", sagte ich, den Stapel Handtücher balan-cierend. Mein Rücken meldete sich.
"Welches möchtest du?" fragte ich. Sie schwieg.
"Das Blaue", sagte sie nach einer Weile leicht genervt. Ich zeigte auf das mittlere, sie schüttelte den Kopf. Ich zeigte mit Mühe auf das unterste und sie nickte. Na endlich. Ich brachte rasch den Stapel zurück und widmete mich den Waschlappen.
"Ich nehme dann aber den hellblauen Waschlappen."
Natürlich. Ich legte den gelben wieder auf den Stapel, nahm den hellblauen aus dem Stapel, legte ihn auf den Tisch und fing schon an zu schwitzen, als ich den Stapel wegschaffte. Als nächstes Ihre Anziehsachen holen, sagte ich mir den Ablauf im Kopf vor. Und die Übergabe end-lich lesen.
"Kannst du mir Creme auf die Lippen geben", sagte sie, als ich an der Tür war. Ich ging zu ihrem Kopfende und nahm die kleine Tube vom Regal.
"Von der dicken", sagte sie. Das machen wir doch sonst nach dem Duschen, dachte ich, legte aber die kleine Tube wieder weg und ging zum Schrank. Ich nahm mir einen Handschuh und brachte die große Tube zum Bett, verteilte etwas Creme vorsichtig auf ihren Lippen.
"Gut?", fragte ich. Sie nickte und ich wollte den Hand-schuh schon ausziehen.
"Noch etwas in die Mitte", sagte sie.
Von der Dusche her kam lautes Wasserrauschen. Die Mutter duschte ganz offensichtlich. Das Bad konnte ich also noch nicht so bald vorbereiten.
Ich ging die große Tube Creme wegschaffen und holte die Kleidung aus dem Wohnzimmer. Mieni Blick fiel auf das Übergabebuch. Gleich!
Kaum war ich zurück, fragte sie: "Kannst du mir ein Eukalyptusbonbon holen?" Das ist ihr eingefallen, weil sie mich ins Wohnzimmer hat gehen hören, dachte ich.
Ich legte die Kleidung auf ihr Bett – das mochte sie nicht, aber sie sagte nichts – und dachte mir auf dem Weg ins Wohnzimmer, ich hätte fragen sollen, ob sie ein Bonbon will. Aber im Grunde war das sinnlos, das wusste ich, wenn ich gefragt hätte, weil sie dann nämlich keines gewollt hätte.
Ich kam zurück und zeigte ihr die Kleidung vom Vortag, allen voran die Socken. Sie nickte. Hieß das jetzt, sie will sie generell noch anziehen? Ich hielt sie weiter hoch und fragte:
"Anziehen oder nur bis zum Duschen?"
"Bis zum Duschen."
OK, dachte ich, dann also auch Socken aussuchen. Ich legte die Bis-zum-Duschen-Socken hin und zeigte ihr das Unterhemd.
"Wäsche."
"Alles klar", sagte ich, legte das Hemd zur Seite und hielt den Slip hoch.
"Wäsche", sagte sie erwartungsgemäß. Ich legte den Slip zum Hemd und hielt ihr den Pulli hin.
"Auf den Bügel", sagt sie.
Ich fummelte den Pulli auf den Bügel, auf dem schon eine Hose und ein Spaghetti-Träger-Hemd hingen, vorsichtig bemüht nichts runter zu schmeißen. Geschafft. Rasch räumte ich die Unterwäsche in den Wäschekorb.
"Hose?" fragte ich dann und halte ihr die ebenfalls hin.
"Anziehen", sagte sie. Ich legte die Hose hin und machte die Schubladen auf, um ihr Unterwäsche zu zeigen. Bei den Unterhosen entschied sie sich für Pink.
"Ich ziehe doch den Pulli an", sagte sie, als ich ihr die Unterhemden zeigte. Ich durfte die Binde nicht vergessen. Ach, und die verdammte Übergabe!
"Oh", sagte ich, machte die Schublade wieder zu und fummelte den Pulli wieder vom Bügel.
"Dann ziehe ich auch noch mal das Unterhemd an." sagte sie. Auf mein "Das habe ich schon in den Wäschekorb geworfen", erntete ich ein entnervtes Stöhnen. So blöd, sagte das Stöhnen, so blöd bist du.
"Soll ich es wieder rausholen?" fragte ich, und überlegte, was wir denn jetzt erreicht haben in den letzten 15 Minu-ten. Und die Binde, Herrschaftszeiten.
"Nein", sagte sie, "aber ohne das Unterhemd kann ich den Pulli nicht anziehen. Die andere gucken vor." Das klang zu logisch um Schikane zu sein, als fummelte ich den Pulli wieder auf den Bügel.
Ich klinkte mich aus und ließ den weiteren 'Ich-such-meine-Anziehsachen-aus"-Stress, den sie sich machte, ungerührt über mich ergehen. Ich dachte an eine Geschich-te, an der ich gerade schrieb, an den grandiosen Film, den ich am Vorabend gesehen hatte.
Mechanisch legte ich die Sachen, die sie endlich ausge-sucht hatte, bereit. War das hier jetzt erledigt? Und dear die Mutter aus der Dusche? Konnte ich jetzt ins Bad, um die Dutzend Sachen dort vorzubereiten? Schließlich hatte die Mutter noch nicht Frühstück gemacht. Und Saft wollte Sigrun sich auch noch aussuchen, vor der Bewegung. Das muss ich also auch noch erledigen.
Aber hörte ich den Fön, just als ich fragen wollte, ob ich ins Bad gehen sollte.
"Soll ich Frühstück machen", fragte ich, weil ich sehen konnte, dass ihr das nicht passt, dass die Mutter noch nicht fertig war. Sie denkt schon wieder daran, dass die Heizung nicht rechtzeitig auf 4 steht, wenn im Bad noch gelüftet muss, wusste ich.
"Wir holen jetzt mal mein Notizbuch", sagt sie. Wir? Aha. Ich ging los. Zu fragen, woher diese Wende kam, hätte eh keinen Sinn gehabt. Als ich mit dem Notizbuch kam, hatte ich in weiser Voraussicht den Kuli dabei; dennoch schickte sie mich noch mal los.
"Und das Telefon?" Das hätte ich schließlich wissen könne, sagte ihr Blick.
Wir überstanden die Telefon-Geschichte und die Notizen für den Spät-Dienst, indem meine Gedanken wieder abwi-chen. Ach du lieber Himmel, die Binde, fiel mir ein. Die Übergabe hatte schon kaum noch Stellenwert.
"Wir müssen noch", begann ich, aber Sigrun fiel mir ins Wort, was ich ja schon kannte. Ich atmete tief durch.
"Machst du grad Frühstück? Knuspermüsli, zwei Cappuc-cino wie immer."
Ach, jetzt doch. OK.
"Ja", sagte ich ohne Umschweife. Kaum war ich aus der Tür, rief sie mir nach: "Nimm das Notizbuch wieder mit!" Ich kam zurück, nahm Buch und Kuli.
"Den Kuli kannst du da lassen!"
Ich ließ ihn also da. Ging wieder zur Tür. Da fiel mir wieder die Binde ein. Erst schaffe ich jetzt aber das Notiz-buch weg und mache das Frühstück, gleich kommt sonst die Mutter aus dem Bad, und dann bin dort beschäftigt.
Ich eilte mich, alles zu erledigen und kam zurück.
"Holst du bitte meinen schwarzen Kalender?"
Das hätte ich mir auch denken können, wenn sie den Kuli behalten wollte.
"Leg ihn bitte mit dem Kuli zusammen auf den Beistell-tisch.“
Jetzt aber! Ich erinnerte sie an die Binde, und sie reagierte prompt genervt, demonstrierte, dass sie mir böse ist, weil ich nicht eher daran gedacht hatte.
Ich klebte die Binde auf 2,5 cm über den Steg. Jede Wette, heute sind es wieder 2 cm. Und richtig, sie mahnte mich zur Korrektur.
Während sie die Bindenlage erneut prüfte und ein wohl-wollend klingendes "Ja, jetzt stimmt's" von ihr kam, brach-te die Mutter das Tablett mit dem Frühstück herein, ganz so, als hätte sie es zubereitet.
Eine Stunde war erst um, sah ich auf der kleinen Uhr vom Beistelltisch, als ich die Unterhose zusammenlegte.
"Räumst du bitte die Sachen weg", sagte die Mutter und guckte stirnrunzelnd Kalender und Kuli an, weil sie das Tablett nicht abstellen konnte. Eine Stunde von sieben, wohlbemerkt.
Wenige Monate später war Sigrun tot, sie hatte es doch noch geschafft, zu beenden, was sie angefangen hatte. Bei ABEL war dieser Suizid keine Supervision wert. So viel zum Betriebsklima. Und der neue Chef taugt auch nicht in die Suppe. Warum eigentlich nicht?
Inzwischen bin ich nicht mehr nur glücklich, wenn die Arbeit vorbei ist. Ich bin auch glücklich, wenn ich hinfahre und sogar während der Arbeit. Denn inzwischen arbeite ich an einer Schule.
Ich begriff, dass wir früher anfangen müssen, bei den Kindern. Schule ist unser Weg zu einem Verhältnis auf Augenhöhe. Deshalb bin ich hier, und das Lachen vor der Tür verstärkt sich. Tina macht wieder den Clown. Die Pause ist noch nicht mal zu Ende.
© Für BB
In memoriam
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