Thursday, January 1. 2015
Das Band
Nach einer alten Legende aus den Inselstaaten
Wann immer es in North Antrim Nebel gab, erinnerten wir uns der alten Geschichten. Bei uns im Dorf zum Beispiel lebte einst ein alter Mann, den alle nur den alten Murphy nannten. Der ging fast nie aus dem Haus und wenn, dann war er stets griesgrämig und grüßte kaum. Die Frauen im Dorf behaupteten, er habe einst seine Geliebte für immer verloren, aber sie sei nicht gestorben. Dabei taten sie sehr geheimnisvoll. Und wenn wir Kinder nachfragten, dann wisperte uns bestimmt eine von ihnen die ganze schauerliche Geschichte zu.
Murphy sei damals ein stattlicher, stets gut gelaunter, schwarz gelockter Jüngling mit blauen Augen gewesen, überall bekannt als der schöne Angus. Das konnten wir nie so recht glauben, obwohl wir die Geschichte schon so oft gehört hatten, weil doch der Mann jetzt ganz und gar grau war, wo er überhaupt noch Haare hatte, und weil er seine Augen so zukniff, dass sie von gar keiner Farbe waren.
Doch die Frauen schworen jedes Mal aufs Neue, dass es so und nicht anders um ihn bestellt gewesen wäre und dass damals auch viele junge Mädchen diesem jungen Mann schöne Augen gemacht hätten. Er habe sie auch immer mit einem freundlichen Lächeln erwidert, die schüchtern Blicke von hier und dort, bis, ja, bis eines Tages mit einem Schlag alles anders gewoden war. Nur wenige hatten damals erfahren, was sich zugetragen hatte, aber nun würden sie uns alles erzählen, damit es nie in Vergessenheit geriete.
Der junge Angus hatte sich damals in einer nebeligen frühen Abendstunde auf der Straße von Bushmills nach Derrykeighan ganz plötzlich verirrt. Nun würde ein Einheimischer sofort fragen, was der Fremdling nicht wissen kann: Wie, ja wie nur, konnte sich der junge Mann auf einer schnurgeraden Straße ohne Abzweigung verirren? Offenbar geschah es, und wir wollen auch bald erläutern, warum dies geschah, aber zunächst gilt es, dem jungen Mann auf seinem Weg zu folgen.
Es wird berichtet, dass der Nebel auf einmal so dicht wurde, dass Angus an einer Kreuzung stand, die er noch wenige Sekunden zuvor überhaupt nicht bemerkt hatte. Er wunderte sich über alle Maßen, denn auch ihm war natürlich klar, dass es eigentlich keine Kreuzung auf seinem Weg geben durfte. Doch weil er ein furchtloser junger Mann war, zögerte Angus nicht lange und wandte sich nach rechts, um einfach einmal nachzusehen, wohin denn dieser unbekannte Weg wohl führen mochte.
Zu seiner Überraschung endete der neue Weg nach einigen Metern, und Angus musste umkehren, wenn er nicht übers Feld weitergehen wollte. Natürlich ging er nun genau in die entgegengesetzte Richtung, so als sei er zuvor nicht rechts sondern links vom Hauptweg abgebogen. Und siehe da, dieser Weg endete nicht sofort, er führte weiter und wurde nur durch eine undurchdringliche Nebelwand begrenzt, die mit jedem von Angus Schritten weiter zurückwich.
Nachdem er eine Weile weitergelaufen war, sah die Landschaft mit einem Mal verändert aus und der Nebel verschwand, so schnell er gekommen war. War nicht auch der Himmel leuchtender in seinem Blau? Waren nicht die Bäume frischer in ihrem Grün? Noch damit beschäftigt sich zu wundern, sah Angus plötzlich ein Schild, offenbar einen Wegweiser, den er zuvor noch nie hier in diesen Breiten gesehen hatte, und als er näher heran kam, las er: CLONTARF VILLAGE.
Selbst wenn unser Angus damals kein weltbewanderter junger Mann gewesen wäre, hätte er sofort gewusst, dass er von diesem Dorf nie zuvor gehört geschweige es jemals betreten hatte. Eigentlich hätte ihm das sagen müssen, dass es hier nicht mit rechten Dingen zuging. Aber Angus war ein tapferer Mann, der davon überzeugt war, dass, sofern er selbst auf dem Pfade der Tugend blieb, niemand ihm etwas Böses würde anhaben können. So ging er denn, furchtlos aber um so zügiger, weiter, weil er diesem Rätsel rasch auf den Grund gehen wollte.
Noch war der Weg gesäumt von dichtem Wald, doch je näher er dem geheimnisvollen Dorf selbst kam, desto deutlicher konnte er die Veränderungen wahrnehmen. Die üblichen Geräusche der heimischen Wälder, das Rauschen des Windes in den Baumwipfeln, das Zwitschern der Vögel in den Zweigen, das Rascheln kleiner Tiere im Unterholz schien hier wie erstorben.
Dafür hörte er deutlich ein Stimme, die eine alte Melodie sang, von der er sicher war, sie schon einmal gehört zu haben, aber er konnte nicht sagen wo. Die Stimme sang in engelsgleichen Tönen, heller und sanfter als er es sich hätte erträumen können, in einer Sprache, die er nicht kannte, obwohl ihm diese seltsamerweise ebenso bekannt vorkam wie das Lied.
Schließlich endete der Weg und Angus konnte die ersten Häuser des Dorfes ausmachen. Noch immer hörte er die klare Stimme und folgte ihr wie gebannt zu ihrem Ursprung. Dabei passierte er ein Ortsschild und las, noch immer verwundert. erneut die verwitterten Buchstaben "Clontarf" und, direkt darunter, etwas kleiner, "North Antrim".
Die Häuser, an denen er nun vorbei kam, sahen liebevoll gepflegt aus, doch er konnte nirgendwo einen der Bewohner ausmachen. Raschen Schrittes folgte er weiter dem Wohlklang der Stimme, die er noch immer hörte, bis er schließlich auf einem Felsen an dem kleinen Bach, der mitten durch das Dorf floss, eine junge Frau sitzen sah. Sich auf ihre Hände stützend, denn Kopf mit dem langen lockigen Haar nach hinten gelehnt, saß sie so, dass ihr Gesicht dem Himmel zugewandt war, während sie die wunderbaren Töne hervorbrachte, die ihn her gelockt hatten.
Er stellte sich in einiger Entfernung hinter sie und wagte nicht, sie anzusprechen, doch die Frau beendete ihr Lied, richtete sich auf und drehte den Kopf. Für einen Moment erschrak sie, als sie ihn sah, doch sie fasste sich rasch, wie Angus bemerkte, und lächelte ihn freundlich an.
"Guten Tag!" sagte sie. "Willkommen in Clontarf Village!"
Angus nahm seine Mütze ab und machte einen kurzen Diener, wie es damals noch allerorts üblich war, und erwiderte ihren Gruß.
"Mein Name ist Angus", sagte er. "Angus Murphy."
"Ich bin Jennifer", lächelte die Frau und stand auf, und ihr langes rotgoldenes Haar, das ihre Schultern umspielte wie ein Umhang, glänzte im milden Sonnenlicht. Auch ihre Wangen bekamen jetzt einen leichten Schimmer von Rot, als sie ihre Haare mit den Händen zusammennahm und begann, sie mit den Fingern zu kämmen und anschließend geschickt zu flechten.
"Ich war ein wenig schwimmen!" sagte sie. "Und musste das Haar trocknen lassen!" Es klang fast wie eine Entschuldigung und Angus kleines Herz machte einen Satz, so dass er sich an die Brust griff.
"Schönes Haar!" wagte er zu sagen und wie erwartet schlug die junge Frau die Augen nieder.
"Wir haben nicht allzu viele Gäste hier!" sagte sie schließlich. "Darf ich Euch zum Marktplatz führen, damit ihr die anderen kennen lernt?"
Angus nickte, und als Jennifer ein kleines grünes Band um das Ende ihres Zopfes geschlungen hatte, der jetzt über ihre linke Schulter hing, ging sie zügigen Schrittes voran, so dass Angus sich Mühe geben musste, Schritt zu halten.
"Ich habe Clontarf Village noch nie bemerkt", sagte er vorsichtig, aber Jennifer reagierte nicht darauf. Sie deutete auf ein paar Gebäude in der Nähe.
"Hinter dem Bürgerhaus dort auf der linken Seite ist der Marktplatz", sagte sie.
Als Angus mit Jennifer auf den Platz trat, sah er eine Menge Menschen und ein solch reges Treiben, das das zuvor wie ausgestorben wirkende Dorf überhaupt nicht hatte vermuten lassen. Jennifer zog ihn am Arm zu einem älteren Mann, der mit einer Frau und einem Mann sprach, offenbar ein Ehepaar, denn die beiden trugen, wie Angus beim Näherkommen sah, den gleichen goldenen Ring an der rechten Hand. Jennifer grüßte die beiden, die soeben dabei waren, sich zu verabschieden, und als der ältere Mann sich nun Angus und ihr zuwandte, begrüßte sie auch ihn, jedoch mit einer Floskel, die Angus ganz sicher noch niemals gehört hatte, dann sagte sie:
"Mister Brannagan, das ist Angus Murphy, er ist soeben eingetroffen!"
Der Mann musterte ihn und dann entspannte ein Lächeln seine Züge, als er sagte:
"Herzlich willkommen in Clontarf, Angus, welche Freude! Ich bin hier der Bürgermeister. Wirklich sehr schön, dass du gekommen bist! Wir haben nicht all zu viele Gäste!"
Das glaube ich gern, dachte Angus, doch er sagte nichts und bemühte sich, ebenfalls zu lächeln. Brannagan schüttelte ihm ausgiebig die Hand und lud ihn ein, doch später noch zum geplanten Festgelage weiter oben am Bach zu kommen. Angus nickte verwirrt und sah Jennifer an, die ebenfalls nickte.
"Wir kommen bestimmt, Mister Brannagan!" sagte sie und zog Angus mit sich fort.
Sie gingen eine Weile weiter über den Platz, und Jennifer grüßte dabei in alle Richtungen und stellte immer wieder Angus kurz vor, bis es ihm zuviel wurde und er sie auf die Seite zog.
"Jennifer!" sagte er. "Ich weiß gar nicht, wie ich anfangen soll..." Er stockte, ließ ihren Arm jedoch nicht los und sie wartete geduldig.
"Ich… ich komme aus Bushmills! Kennst du den Ort?"
Jennifer schüttelte den Kopf.
Angus machte eine unwirsche Handbewegung und fuhr sich mit den Fingern beider Hände durch die Haare.
"Wie kann das sein?" rief er. "Mein Dorf ist gerade Mal ein paar Meilen entfernt, und weder habe ich jemals zuvor etwas von deinem Dorf gehört noch du von meinem. Es ist zum verrückt werden!"
Diesmal war es an Jennifer, ihn zu berühren. Sie fasste eine seiner Hände und bedeckte sie mit ihren schlanken Fingern. Mit gesenktem Blick begann sie zu sprechen.
"Es ist so wie es ist, Angus. Ich kann dein Dorf nicht kennen. Bis gestern war es für mich noch nicht da."
"Was sagst du da?" fragte Angus verwirrt und sah auf seine Hand, die Jennifer jetzt sanft streichelte.
"Es war schon immer so, Angus", fuhr sie leise fort. "Es kommt nur der nach Clontarf, der es finden soll."
"Jennifer!" rief Angus verzweifelt und ließ den Kopf hängen.
"Scha!" machte diese beruhigend. "Sicher ist dir unsere Vertrautheit aufgefallen und dass dich alle so freundlich begrüßt haben." Als sie sah, dass er nickte, fuhr sie fort.
"Wir haben nicht allzu viele Gäste, hat Mr. Brannagan dir gesagt, nicht wahr? Und was dich betrifft auch nicht allzu oft. Es geschieht es nur einmal alle siebenundsiebzig Jahre."
Als Angus jetzt überrascht den Kopf hob, sah er, dass sich in ihren Wimpern Tränen verfangen hatten, und er entzog ihr seine Hand, um ihr die Tränen mit dem Finger vorsichtig abzuwischen. Sie war wirklich die schönste Frau, die er jemals gesehen hatte. Und jetzt vertiefte sich das Gefühl der Vertrautheit noch, von dem sie gesprochen hatte. Es war ihm, als würde er Jennifer schon sehr lange kennen. Wieder machte sein Herz einen Satz. Dann fasste er sich und versuchte, das Gehörte einzuordnen.
"Alle siebenundsiebzig Jahre? Aber wie kann das sein?" fragte er jetzt so ruhig es ihm möglich war.
"Wir wissen es nicht. Wir wissen nur, dass Clontarf seit vielen hunderten von Jahren so besteht wie du es hier siehst. Und wenn mal wieder jemand herfindet, dann sind jedes Mal genau siebenundsiebzig Jahre vergangen - zumindest sagen uns das die Menschen, die zu uns kommen, wenn wir sie nach ihrer Zeitrechnung fragen. Bei uns sind es ... jedes Mal nur sieben Tage." Sie nickte, als wolle sie ihre Aussage bekräftigen. "Genau sieben Tage, eine Woche, von Sonntag bis Samstag, vom ersten bis zum letzten Tag!"
Angus reagierte anders, als sie es erwartet hatte.
"Soll das heißen, ihr bekommt hier immer samstags Besuch?"
Jennifer nickte und versuchte ein Lächeln.
"Ja, genau. Immer samstags! Darum ist Markt!" Sie deutete auf die Stände hinter ihnen.
"Aber wie könnt ihr denn bestehen? Ohne Austausch mit anderen? Ohne Zuwanderer? Verlässt denn nie jemand das Dorf?"
"So viele Fragen!" lächelte sie. "Lass uns in das Gasthaus Shamrock gehen! Ich werde mir Mühe geben, alle deine Fragen zu beantworten." Sie griff nach seiner Hand und zog ihn mit sich fort.
Angus wusste nicht, was er mit dem, das ihm Jennifer erzählt hatte, anfangen sollte, aber er folgte ihr jetzt williger als zuvor, da ihn trotz aller Verwirrung Neugier erfasst hatte. Er glaubte zwar nicht an all die übersinnlichen Dinge, die viele seiner Nachbarn in Angst und Schrecken versetzten, aber er war überzeugt davon, dass diese Frau ihn nicht anlügen würde, ebenso überzeugt, wie davon, dass es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gab, als man gemeinhin anzunehmen bereit war. Er wusste ebenso gut, dass dies mit der Entwicklung eines bestimmten Verständnisses zusammenhing. Ein Mann aus dem alten Rom hätte wahrscheinlich vor jedem moderneren Menschen gezittert, wenn dieser ihm die neusten menschlichen Erfindungen vorgeführt hätte, und so konnte es ebenso gut sein, dass sein leichtes Zittern, das er sich bereits eingestanden hatte, darauf zurückzuführen war, dass er im Augenblick aus einem ähnlichen Grunde nicht verstand, was hier vor sich ging.
Jennifer hatte ihn losgelassen und schritt gezielt voran, so dass sie nun ein wenig vor ihm ging. Er blickte auf ihren Rücken, streifte mit dem Blick ihre schmalen Schultern und ihren Zopf aus goldrotem Haar und spürte mit einem Mal, dass er nie wieder von dieser Frau würde Abschied nehmen können. Dies Dorf würde, was immer auch geschah, von nun an seine Heimat sein. Hier vollendete sich sein Schicksal.
Als sie im Shamrock in einer ruhigen Ecke Platz genommen hatten und Jennifer bei der freundlichen Wirtin zwei Ginger Ale bestellt hatte, sah Angus sie erwartungsvoll an, woraufhin diese nickte. Gerade jetzt wollte er mehr erfahren, wollte wissen, worauf er im Begriff war sich einzulassen.
"Ich weiß, dass du es kaum erwarten kannst", seufzte Jennifer. "Aber ich kann dir aber gar nicht viel mehr sagen. Die meisten Leute, die kommen, gehen wieder, sobald sie erfahren, was mit uns geschieht. Wer möchte schon seine Familie und seine Freunde aufgeben?" Bei diesen Worten war die junge Frau leise geworden und Angus fühlte sich veranlasst, nach ihrer Hand zu greifen.
"Es hat, solange ich lebe, noch niemand das Dorf verlassen", fuhr sie fort. "Wohin hätte er auch gehen sollen... Aber einige, die uns am Marktage besuchten, blieben, und wenn sie eine Woche geblieben waren, dann konnten auch sie nirgendwo mehr hin, denn ihre Welt gab es dann bereits nicht mehr." Sie wartet auf Angus' Reaktion.
"Aber du könntest gehen, wenn du wolltest?" fragte er.
"Ich weiß es nicht, ich nehme es an. Aber was würde aus dem Dorf ohne mich? Und wohin sollte ich wohl wollen?"
Angus senkte den Kopf.
"Komm mit mir." sagte er fast tonlos.
Jennifer sah ihn verzweifelt an und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
"Ach wie gern würde ich bei dir sein, Angus, das kannst du mir glauben! Aber das kann ich nicht tun. Genau wie du nicht bleiben solltest, wenn du nicht wirklich bereit bist, alles aufzugeben, was dir bisher etwas bedeutet hat. So lieb ich dich bereits auf den ersten Blick gewonnen habe... ich muss im Dorf bleiben, bis Clontarf seinen Platz in der Geschichte wiederfindet!"
Überrascht sah Angus auf.
"Glaubst du denn, dass dies eines Tages geschehen wird? Glaubst du, dass Clontraf irgendwo verbleiben wird?"
Jennifer sah ihn ratlos an.
"Wir hoffen es Angus. Wir geben die Hoffnung nicht auf, dass wir eines Tages einen Anker finden, der uns in einer Zeit halten wird und mit dem Rest der Welt verbindet! Aber niemand hat auch nur die geringste Idee, wie man das bewerkstelligen könnte."
Angus saß wieder mit gesenktem Kopf da und war nun ebenfalls den Tränen nah. Endlich hatte er eine Frau gefunden, die sein Herz berührte, und nun sollte er sie nicht bekommen! In diesem Moment schlang Jennifer ihre schmalen Arme um ihn und schmiegte sich an ihn. Er richtete sich auf und drückte sie an sich, dann küsste er sie wie ein Ertrinkender, der nach Luft ringt, so leidenschaftlich und voller Verzweiflung. Als sie wieder von einander lassen konnten, räusperte er sich.
"Ich bleibe! Ich muss bleiben. Ich will bleiben!"
Jennifers trauriger Blick verwandelte sich in Sekundenschnelle in ein fröhlich verliebtes Zwinkern.
"Ich weiß jedenfalls, dass du es nicht bereuen wirst!" flüsterte sie.
Nie zuvor hatte Angus sich so glücklich gefühlt, und er küsste Jennifer wieder und wieder, so als liebe er sie schon seit Jahren und könne auch niemals mehr damit aufhören.
Während er sie in den Armen seiner Leidenschaft hielt, löste sich plötzlich das Band ihres Zopfes und er fühlte wie es ihm über die Hand glitt, mit der er ihren Rücken hielt. Er griff danach und steckte das Band in seine Jackentasche, dann löste er mit beiden Händen Jennifers Zopf, so dass die langen Locken sanft über ihre Schultern und ihre Rücken fielen.
Sie lächelte und ließ ihn gewähren.
"Du bist wie ein Traum!" sagte er und drückte sie an sich.
Nachdem sie eine ganz Weile im Gasthaus Shamrock zugebracht hatten, gab Angus an, er wolle doch zu gerne noch einmal durch das Dorf gehen, um alles etwas besser kennen zu lernen, und Jennifer stimmte fröhlich ein. Als sie zu dem kleinen Fluss kamen, zu der Stelle, an der sie sich zuerst begegnet waren, waren sie ganz überwältigt von ihrer Stimmung und standen ein Weile Arm in Arm da.
Plötzlich bat Angus Jennifer, noch einmal mit ihm zum Dorfeingang zu gehen, weil ihm der Gedanke kam, dass er Clontarf vielleicht doch irgendwie in dieser einen Zeit und in dieser einen Welt festzuhalten vermochte. Zögernd willigte diese ein, gab aber leise zu bedenken, dass es gefährlich sein könnte, wenn man womöglich unabsichtlich das Dorf verlasse. Niemand wisse genau, wo die Grenze zwischen Clontarf und den anderen Welten sei. Angus zerstreute ihre Bedenken, denn er erinnerte sich daran, dass ihm bei seiner Ankunft jene Stelle aufgefallen war, ab der alles irgendwie anders zu sein schien, worauf er sich zu der Zeit keinen Reim hatte machen können. Jetzt wo er Bescheid wisse, werde er die Stelle ganz gewiss wieder erkennen.
Als sie zum Dorfrand kamen, wo das verwitterte alte Ortsschild stand, war es Angus plötzlich so als werde er von einem großen Sehnen erfasst. Er starrte in Richtung des Weges, auf dem er vor wenigen Stunden hergekommen war, und konnte es nicht fassen, was er im Begriff war zu tun. In Clontarf bleiben? Alles zurücklassen?
Sie gingen weiter den Weg entlang, während Jennifers Schritte immer langsamer wurden, Angus sie jedoch zum Weitergehen drängte, bis sie schließlich bei dem Wegweiser waren, der Angus zuerst auf Clontarf aufmerksam gemacht hatte.
"Jennifer!" rief er jetzt klagend aus und griff nach ihrer Hand. "Ich weiß nicht wie mir geschieht! Mein Dorf - es ruft nach mir. Ich höre ihre Stimmen, die Stimmen meiner Freunde und Nachbarn, meiner Eltern..." Verzweifelt hielt er sich die Ohren zu, was absolut sinnlos war, da er die Stimmen in seinem Kopf hört.
"Wie sollten auf den Marktplatz zurückkehren!" rief Jennifer, die ganz blass geworden war. "Sofort, Angus!" Sie drehte um und ging ein paar rasche Schritte Richtung Dorf.
Mechanisch nickt Angus und wollte ihr folgen, als er plötzlich wie angewurzelt stehen blieb.
"Ich kann meine Beine nicht mehr bewegen!" schrie er und sah entsetzt an sich herunter.
"Greif zu!" schrie Jennifer, die zurückkam und ihm ihre Hand entgegenstreckte.
Angus griff danach, und sie versuchte mit all ihrer Kraft, ihn mit sich zu ziehen, aber es gelang ihr nicht. Schließlich gab sie es auf und begann zu schluchzen.
"Wir hätten nicht herkommen sollen!" Sie schlug die Hände vor das Gesicht. "Ich werde dich verlieren!"
"Nein!" schrie Angus außer sich und nahm seine ganze Kraft zusammen, den knappen Abstand von drei Fuß zwischen ihnen zu überspringen.
Schließlich konnte er sich tatsächlich losreißen und sprang, aber als er glaubte, neben Jennifer anzukommen, sah er, dass sich an der Stelle, wo sie gestanden hatte, nichts befand. Keine Spur von ihr, sie war einfach verschwunden. Nicht einmal die Grashalme waren abgeknickt, an der Stelle, an der sie gestanden hatte, und er befand sich auch nicht einmal auf einem Weg umgeben von einem Wald. Er stand mutterseelenallein auf einem weiten Feld in der Nähe der Straße von Bushmills nach Derrykeighan und schrie sich fast die Seele aus dem Leib. Es hatte soeben zu regnen begonnen, und jetzt erst wurde ihm klar, dass er in Clontarf selbst überhaupt kein richtiges Wetter erlebt hatte. Für einen Moment zweifelt er, ob er sich die ganze Sache womöglich nur eingebildet hatte, da spürte er plötzlich in seiner Tasche das kleine Band von Jennifers Zopf in der Hand, das er eingesteckt hatte, und Tränen liefen ihm über die Wangen.
Natürlich ließ er es in den nächsten Wochen nicht dabei bewenden, sondern kam jeden Tag an die Stelle zurück, wo er auf Clontarf gestoßen war, doch er konnte nichts tun, und so musste er irgendwann einsehen, dass er Jennifer für immer verloren hatte, seiner Neugierde wegen und weil er alles auf einmal hatte haben wollen.
So und nicht anders erzählten uns die alten Frauen des Dorfes die Geschichte des Mannes, dem von seiner großen Liebe nichts geblieben war als ein grünes Band.
© 2003
Wann immer es in North Antrim Nebel gab, erinnerten wir uns der alten Geschichten. Bei uns im Dorf zum Beispiel lebte einst ein alter Mann, den alle nur den alten Murphy nannten. Der ging fast nie aus dem Haus und wenn, dann war er stets griesgrämig und grüßte kaum. Die Frauen im Dorf behaupteten, er habe einst seine Geliebte für immer verloren, aber sie sei nicht gestorben. Dabei taten sie sehr geheimnisvoll. Und wenn wir Kinder nachfragten, dann wisperte uns bestimmt eine von ihnen die ganze schauerliche Geschichte zu.
Murphy sei damals ein stattlicher, stets gut gelaunter, schwarz gelockter Jüngling mit blauen Augen gewesen, überall bekannt als der schöne Angus. Das konnten wir nie so recht glauben, obwohl wir die Geschichte schon so oft gehört hatten, weil doch der Mann jetzt ganz und gar grau war, wo er überhaupt noch Haare hatte, und weil er seine Augen so zukniff, dass sie von gar keiner Farbe waren.
Doch die Frauen schworen jedes Mal aufs Neue, dass es so und nicht anders um ihn bestellt gewesen wäre und dass damals auch viele junge Mädchen diesem jungen Mann schöne Augen gemacht hätten. Er habe sie auch immer mit einem freundlichen Lächeln erwidert, die schüchtern Blicke von hier und dort, bis, ja, bis eines Tages mit einem Schlag alles anders gewoden war. Nur wenige hatten damals erfahren, was sich zugetragen hatte, aber nun würden sie uns alles erzählen, damit es nie in Vergessenheit geriete.
Der junge Angus hatte sich damals in einer nebeligen frühen Abendstunde auf der Straße von Bushmills nach Derrykeighan ganz plötzlich verirrt. Nun würde ein Einheimischer sofort fragen, was der Fremdling nicht wissen kann: Wie, ja wie nur, konnte sich der junge Mann auf einer schnurgeraden Straße ohne Abzweigung verirren? Offenbar geschah es, und wir wollen auch bald erläutern, warum dies geschah, aber zunächst gilt es, dem jungen Mann auf seinem Weg zu folgen.
Es wird berichtet, dass der Nebel auf einmal so dicht wurde, dass Angus an einer Kreuzung stand, die er noch wenige Sekunden zuvor überhaupt nicht bemerkt hatte. Er wunderte sich über alle Maßen, denn auch ihm war natürlich klar, dass es eigentlich keine Kreuzung auf seinem Weg geben durfte. Doch weil er ein furchtloser junger Mann war, zögerte Angus nicht lange und wandte sich nach rechts, um einfach einmal nachzusehen, wohin denn dieser unbekannte Weg wohl führen mochte.
Zu seiner Überraschung endete der neue Weg nach einigen Metern, und Angus musste umkehren, wenn er nicht übers Feld weitergehen wollte. Natürlich ging er nun genau in die entgegengesetzte Richtung, so als sei er zuvor nicht rechts sondern links vom Hauptweg abgebogen. Und siehe da, dieser Weg endete nicht sofort, er führte weiter und wurde nur durch eine undurchdringliche Nebelwand begrenzt, die mit jedem von Angus Schritten weiter zurückwich.
Nachdem er eine Weile weitergelaufen war, sah die Landschaft mit einem Mal verändert aus und der Nebel verschwand, so schnell er gekommen war. War nicht auch der Himmel leuchtender in seinem Blau? Waren nicht die Bäume frischer in ihrem Grün? Noch damit beschäftigt sich zu wundern, sah Angus plötzlich ein Schild, offenbar einen Wegweiser, den er zuvor noch nie hier in diesen Breiten gesehen hatte, und als er näher heran kam, las er: CLONTARF VILLAGE.
Selbst wenn unser Angus damals kein weltbewanderter junger Mann gewesen wäre, hätte er sofort gewusst, dass er von diesem Dorf nie zuvor gehört geschweige es jemals betreten hatte. Eigentlich hätte ihm das sagen müssen, dass es hier nicht mit rechten Dingen zuging. Aber Angus war ein tapferer Mann, der davon überzeugt war, dass, sofern er selbst auf dem Pfade der Tugend blieb, niemand ihm etwas Böses würde anhaben können. So ging er denn, furchtlos aber um so zügiger, weiter, weil er diesem Rätsel rasch auf den Grund gehen wollte.
Noch war der Weg gesäumt von dichtem Wald, doch je näher er dem geheimnisvollen Dorf selbst kam, desto deutlicher konnte er die Veränderungen wahrnehmen. Die üblichen Geräusche der heimischen Wälder, das Rauschen des Windes in den Baumwipfeln, das Zwitschern der Vögel in den Zweigen, das Rascheln kleiner Tiere im Unterholz schien hier wie erstorben.
Dafür hörte er deutlich ein Stimme, die eine alte Melodie sang, von der er sicher war, sie schon einmal gehört zu haben, aber er konnte nicht sagen wo. Die Stimme sang in engelsgleichen Tönen, heller und sanfter als er es sich hätte erträumen können, in einer Sprache, die er nicht kannte, obwohl ihm diese seltsamerweise ebenso bekannt vorkam wie das Lied.
Schließlich endete der Weg und Angus konnte die ersten Häuser des Dorfes ausmachen. Noch immer hörte er die klare Stimme und folgte ihr wie gebannt zu ihrem Ursprung. Dabei passierte er ein Ortsschild und las, noch immer verwundert. erneut die verwitterten Buchstaben "Clontarf" und, direkt darunter, etwas kleiner, "North Antrim".
Die Häuser, an denen er nun vorbei kam, sahen liebevoll gepflegt aus, doch er konnte nirgendwo einen der Bewohner ausmachen. Raschen Schrittes folgte er weiter dem Wohlklang der Stimme, die er noch immer hörte, bis er schließlich auf einem Felsen an dem kleinen Bach, der mitten durch das Dorf floss, eine junge Frau sitzen sah. Sich auf ihre Hände stützend, denn Kopf mit dem langen lockigen Haar nach hinten gelehnt, saß sie so, dass ihr Gesicht dem Himmel zugewandt war, während sie die wunderbaren Töne hervorbrachte, die ihn her gelockt hatten.
Er stellte sich in einiger Entfernung hinter sie und wagte nicht, sie anzusprechen, doch die Frau beendete ihr Lied, richtete sich auf und drehte den Kopf. Für einen Moment erschrak sie, als sie ihn sah, doch sie fasste sich rasch, wie Angus bemerkte, und lächelte ihn freundlich an.
"Guten Tag!" sagte sie. "Willkommen in Clontarf Village!"
Angus nahm seine Mütze ab und machte einen kurzen Diener, wie es damals noch allerorts üblich war, und erwiderte ihren Gruß.
"Mein Name ist Angus", sagte er. "Angus Murphy."
"Ich bin Jennifer", lächelte die Frau und stand auf, und ihr langes rotgoldenes Haar, das ihre Schultern umspielte wie ein Umhang, glänzte im milden Sonnenlicht. Auch ihre Wangen bekamen jetzt einen leichten Schimmer von Rot, als sie ihre Haare mit den Händen zusammennahm und begann, sie mit den Fingern zu kämmen und anschließend geschickt zu flechten.
"Ich war ein wenig schwimmen!" sagte sie. "Und musste das Haar trocknen lassen!" Es klang fast wie eine Entschuldigung und Angus kleines Herz machte einen Satz, so dass er sich an die Brust griff.
"Schönes Haar!" wagte er zu sagen und wie erwartet schlug die junge Frau die Augen nieder.
"Wir haben nicht allzu viele Gäste hier!" sagte sie schließlich. "Darf ich Euch zum Marktplatz führen, damit ihr die anderen kennen lernt?"
Angus nickte, und als Jennifer ein kleines grünes Band um das Ende ihres Zopfes geschlungen hatte, der jetzt über ihre linke Schulter hing, ging sie zügigen Schrittes voran, so dass Angus sich Mühe geben musste, Schritt zu halten.
"Ich habe Clontarf Village noch nie bemerkt", sagte er vorsichtig, aber Jennifer reagierte nicht darauf. Sie deutete auf ein paar Gebäude in der Nähe.
"Hinter dem Bürgerhaus dort auf der linken Seite ist der Marktplatz", sagte sie.
Als Angus mit Jennifer auf den Platz trat, sah er eine Menge Menschen und ein solch reges Treiben, das das zuvor wie ausgestorben wirkende Dorf überhaupt nicht hatte vermuten lassen. Jennifer zog ihn am Arm zu einem älteren Mann, der mit einer Frau und einem Mann sprach, offenbar ein Ehepaar, denn die beiden trugen, wie Angus beim Näherkommen sah, den gleichen goldenen Ring an der rechten Hand. Jennifer grüßte die beiden, die soeben dabei waren, sich zu verabschieden, und als der ältere Mann sich nun Angus und ihr zuwandte, begrüßte sie auch ihn, jedoch mit einer Floskel, die Angus ganz sicher noch niemals gehört hatte, dann sagte sie:
"Mister Brannagan, das ist Angus Murphy, er ist soeben eingetroffen!"
Der Mann musterte ihn und dann entspannte ein Lächeln seine Züge, als er sagte:
"Herzlich willkommen in Clontarf, Angus, welche Freude! Ich bin hier der Bürgermeister. Wirklich sehr schön, dass du gekommen bist! Wir haben nicht all zu viele Gäste!"
Das glaube ich gern, dachte Angus, doch er sagte nichts und bemühte sich, ebenfalls zu lächeln. Brannagan schüttelte ihm ausgiebig die Hand und lud ihn ein, doch später noch zum geplanten Festgelage weiter oben am Bach zu kommen. Angus nickte verwirrt und sah Jennifer an, die ebenfalls nickte.
"Wir kommen bestimmt, Mister Brannagan!" sagte sie und zog Angus mit sich fort.
Sie gingen eine Weile weiter über den Platz, und Jennifer grüßte dabei in alle Richtungen und stellte immer wieder Angus kurz vor, bis es ihm zuviel wurde und er sie auf die Seite zog.
"Jennifer!" sagte er. "Ich weiß gar nicht, wie ich anfangen soll..." Er stockte, ließ ihren Arm jedoch nicht los und sie wartete geduldig.
"Ich… ich komme aus Bushmills! Kennst du den Ort?"
Jennifer schüttelte den Kopf.
Angus machte eine unwirsche Handbewegung und fuhr sich mit den Fingern beider Hände durch die Haare.
"Wie kann das sein?" rief er. "Mein Dorf ist gerade Mal ein paar Meilen entfernt, und weder habe ich jemals zuvor etwas von deinem Dorf gehört noch du von meinem. Es ist zum verrückt werden!"
Diesmal war es an Jennifer, ihn zu berühren. Sie fasste eine seiner Hände und bedeckte sie mit ihren schlanken Fingern. Mit gesenktem Blick begann sie zu sprechen.
"Es ist so wie es ist, Angus. Ich kann dein Dorf nicht kennen. Bis gestern war es für mich noch nicht da."
"Was sagst du da?" fragte Angus verwirrt und sah auf seine Hand, die Jennifer jetzt sanft streichelte.
"Es war schon immer so, Angus", fuhr sie leise fort. "Es kommt nur der nach Clontarf, der es finden soll."
"Jennifer!" rief Angus verzweifelt und ließ den Kopf hängen.
"Scha!" machte diese beruhigend. "Sicher ist dir unsere Vertrautheit aufgefallen und dass dich alle so freundlich begrüßt haben." Als sie sah, dass er nickte, fuhr sie fort.
"Wir haben nicht allzu viele Gäste, hat Mr. Brannagan dir gesagt, nicht wahr? Und was dich betrifft auch nicht allzu oft. Es geschieht es nur einmal alle siebenundsiebzig Jahre."
Als Angus jetzt überrascht den Kopf hob, sah er, dass sich in ihren Wimpern Tränen verfangen hatten, und er entzog ihr seine Hand, um ihr die Tränen mit dem Finger vorsichtig abzuwischen. Sie war wirklich die schönste Frau, die er jemals gesehen hatte. Und jetzt vertiefte sich das Gefühl der Vertrautheit noch, von dem sie gesprochen hatte. Es war ihm, als würde er Jennifer schon sehr lange kennen. Wieder machte sein Herz einen Satz. Dann fasste er sich und versuchte, das Gehörte einzuordnen.
"Alle siebenundsiebzig Jahre? Aber wie kann das sein?" fragte er jetzt so ruhig es ihm möglich war.
"Wir wissen es nicht. Wir wissen nur, dass Clontarf seit vielen hunderten von Jahren so besteht wie du es hier siehst. Und wenn mal wieder jemand herfindet, dann sind jedes Mal genau siebenundsiebzig Jahre vergangen - zumindest sagen uns das die Menschen, die zu uns kommen, wenn wir sie nach ihrer Zeitrechnung fragen. Bei uns sind es ... jedes Mal nur sieben Tage." Sie nickte, als wolle sie ihre Aussage bekräftigen. "Genau sieben Tage, eine Woche, von Sonntag bis Samstag, vom ersten bis zum letzten Tag!"
Angus reagierte anders, als sie es erwartet hatte.
"Soll das heißen, ihr bekommt hier immer samstags Besuch?"
Jennifer nickte und versuchte ein Lächeln.
"Ja, genau. Immer samstags! Darum ist Markt!" Sie deutete auf die Stände hinter ihnen.
"Aber wie könnt ihr denn bestehen? Ohne Austausch mit anderen? Ohne Zuwanderer? Verlässt denn nie jemand das Dorf?"
"So viele Fragen!" lächelte sie. "Lass uns in das Gasthaus Shamrock gehen! Ich werde mir Mühe geben, alle deine Fragen zu beantworten." Sie griff nach seiner Hand und zog ihn mit sich fort.
Angus wusste nicht, was er mit dem, das ihm Jennifer erzählt hatte, anfangen sollte, aber er folgte ihr jetzt williger als zuvor, da ihn trotz aller Verwirrung Neugier erfasst hatte. Er glaubte zwar nicht an all die übersinnlichen Dinge, die viele seiner Nachbarn in Angst und Schrecken versetzten, aber er war überzeugt davon, dass diese Frau ihn nicht anlügen würde, ebenso überzeugt, wie davon, dass es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gab, als man gemeinhin anzunehmen bereit war. Er wusste ebenso gut, dass dies mit der Entwicklung eines bestimmten Verständnisses zusammenhing. Ein Mann aus dem alten Rom hätte wahrscheinlich vor jedem moderneren Menschen gezittert, wenn dieser ihm die neusten menschlichen Erfindungen vorgeführt hätte, und so konnte es ebenso gut sein, dass sein leichtes Zittern, das er sich bereits eingestanden hatte, darauf zurückzuführen war, dass er im Augenblick aus einem ähnlichen Grunde nicht verstand, was hier vor sich ging.
Jennifer hatte ihn losgelassen und schritt gezielt voran, so dass sie nun ein wenig vor ihm ging. Er blickte auf ihren Rücken, streifte mit dem Blick ihre schmalen Schultern und ihren Zopf aus goldrotem Haar und spürte mit einem Mal, dass er nie wieder von dieser Frau würde Abschied nehmen können. Dies Dorf würde, was immer auch geschah, von nun an seine Heimat sein. Hier vollendete sich sein Schicksal.
Als sie im Shamrock in einer ruhigen Ecke Platz genommen hatten und Jennifer bei der freundlichen Wirtin zwei Ginger Ale bestellt hatte, sah Angus sie erwartungsvoll an, woraufhin diese nickte. Gerade jetzt wollte er mehr erfahren, wollte wissen, worauf er im Begriff war sich einzulassen.
"Ich weiß, dass du es kaum erwarten kannst", seufzte Jennifer. "Aber ich kann dir aber gar nicht viel mehr sagen. Die meisten Leute, die kommen, gehen wieder, sobald sie erfahren, was mit uns geschieht. Wer möchte schon seine Familie und seine Freunde aufgeben?" Bei diesen Worten war die junge Frau leise geworden und Angus fühlte sich veranlasst, nach ihrer Hand zu greifen.
"Es hat, solange ich lebe, noch niemand das Dorf verlassen", fuhr sie fort. "Wohin hätte er auch gehen sollen... Aber einige, die uns am Marktage besuchten, blieben, und wenn sie eine Woche geblieben waren, dann konnten auch sie nirgendwo mehr hin, denn ihre Welt gab es dann bereits nicht mehr." Sie wartet auf Angus' Reaktion.
"Aber du könntest gehen, wenn du wolltest?" fragte er.
"Ich weiß es nicht, ich nehme es an. Aber was würde aus dem Dorf ohne mich? Und wohin sollte ich wohl wollen?"
Angus senkte den Kopf.
"Komm mit mir." sagte er fast tonlos.
Jennifer sah ihn verzweifelt an und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
"Ach wie gern würde ich bei dir sein, Angus, das kannst du mir glauben! Aber das kann ich nicht tun. Genau wie du nicht bleiben solltest, wenn du nicht wirklich bereit bist, alles aufzugeben, was dir bisher etwas bedeutet hat. So lieb ich dich bereits auf den ersten Blick gewonnen habe... ich muss im Dorf bleiben, bis Clontarf seinen Platz in der Geschichte wiederfindet!"
Überrascht sah Angus auf.
"Glaubst du denn, dass dies eines Tages geschehen wird? Glaubst du, dass Clontraf irgendwo verbleiben wird?"
Jennifer sah ihn ratlos an.
"Wir hoffen es Angus. Wir geben die Hoffnung nicht auf, dass wir eines Tages einen Anker finden, der uns in einer Zeit halten wird und mit dem Rest der Welt verbindet! Aber niemand hat auch nur die geringste Idee, wie man das bewerkstelligen könnte."
Angus saß wieder mit gesenktem Kopf da und war nun ebenfalls den Tränen nah. Endlich hatte er eine Frau gefunden, die sein Herz berührte, und nun sollte er sie nicht bekommen! In diesem Moment schlang Jennifer ihre schmalen Arme um ihn und schmiegte sich an ihn. Er richtete sich auf und drückte sie an sich, dann küsste er sie wie ein Ertrinkender, der nach Luft ringt, so leidenschaftlich und voller Verzweiflung. Als sie wieder von einander lassen konnten, räusperte er sich.
"Ich bleibe! Ich muss bleiben. Ich will bleiben!"
Jennifers trauriger Blick verwandelte sich in Sekundenschnelle in ein fröhlich verliebtes Zwinkern.
"Ich weiß jedenfalls, dass du es nicht bereuen wirst!" flüsterte sie.
Nie zuvor hatte Angus sich so glücklich gefühlt, und er küsste Jennifer wieder und wieder, so als liebe er sie schon seit Jahren und könne auch niemals mehr damit aufhören.
Während er sie in den Armen seiner Leidenschaft hielt, löste sich plötzlich das Band ihres Zopfes und er fühlte wie es ihm über die Hand glitt, mit der er ihren Rücken hielt. Er griff danach und steckte das Band in seine Jackentasche, dann löste er mit beiden Händen Jennifers Zopf, so dass die langen Locken sanft über ihre Schultern und ihre Rücken fielen.
Sie lächelte und ließ ihn gewähren.
"Du bist wie ein Traum!" sagte er und drückte sie an sich.
Nachdem sie eine ganz Weile im Gasthaus Shamrock zugebracht hatten, gab Angus an, er wolle doch zu gerne noch einmal durch das Dorf gehen, um alles etwas besser kennen zu lernen, und Jennifer stimmte fröhlich ein. Als sie zu dem kleinen Fluss kamen, zu der Stelle, an der sie sich zuerst begegnet waren, waren sie ganz überwältigt von ihrer Stimmung und standen ein Weile Arm in Arm da.
Plötzlich bat Angus Jennifer, noch einmal mit ihm zum Dorfeingang zu gehen, weil ihm der Gedanke kam, dass er Clontarf vielleicht doch irgendwie in dieser einen Zeit und in dieser einen Welt festzuhalten vermochte. Zögernd willigte diese ein, gab aber leise zu bedenken, dass es gefährlich sein könnte, wenn man womöglich unabsichtlich das Dorf verlasse. Niemand wisse genau, wo die Grenze zwischen Clontarf und den anderen Welten sei. Angus zerstreute ihre Bedenken, denn er erinnerte sich daran, dass ihm bei seiner Ankunft jene Stelle aufgefallen war, ab der alles irgendwie anders zu sein schien, worauf er sich zu der Zeit keinen Reim hatte machen können. Jetzt wo er Bescheid wisse, werde er die Stelle ganz gewiss wieder erkennen.
Als sie zum Dorfrand kamen, wo das verwitterte alte Ortsschild stand, war es Angus plötzlich so als werde er von einem großen Sehnen erfasst. Er starrte in Richtung des Weges, auf dem er vor wenigen Stunden hergekommen war, und konnte es nicht fassen, was er im Begriff war zu tun. In Clontarf bleiben? Alles zurücklassen?
Sie gingen weiter den Weg entlang, während Jennifers Schritte immer langsamer wurden, Angus sie jedoch zum Weitergehen drängte, bis sie schließlich bei dem Wegweiser waren, der Angus zuerst auf Clontarf aufmerksam gemacht hatte.
"Jennifer!" rief er jetzt klagend aus und griff nach ihrer Hand. "Ich weiß nicht wie mir geschieht! Mein Dorf - es ruft nach mir. Ich höre ihre Stimmen, die Stimmen meiner Freunde und Nachbarn, meiner Eltern..." Verzweifelt hielt er sich die Ohren zu, was absolut sinnlos war, da er die Stimmen in seinem Kopf hört.
"Wie sollten auf den Marktplatz zurückkehren!" rief Jennifer, die ganz blass geworden war. "Sofort, Angus!" Sie drehte um und ging ein paar rasche Schritte Richtung Dorf.
Mechanisch nickt Angus und wollte ihr folgen, als er plötzlich wie angewurzelt stehen blieb.
"Ich kann meine Beine nicht mehr bewegen!" schrie er und sah entsetzt an sich herunter.
"Greif zu!" schrie Jennifer, die zurückkam und ihm ihre Hand entgegenstreckte.
Angus griff danach, und sie versuchte mit all ihrer Kraft, ihn mit sich zu ziehen, aber es gelang ihr nicht. Schließlich gab sie es auf und begann zu schluchzen.
"Wir hätten nicht herkommen sollen!" Sie schlug die Hände vor das Gesicht. "Ich werde dich verlieren!"
"Nein!" schrie Angus außer sich und nahm seine ganze Kraft zusammen, den knappen Abstand von drei Fuß zwischen ihnen zu überspringen.
Schließlich konnte er sich tatsächlich losreißen und sprang, aber als er glaubte, neben Jennifer anzukommen, sah er, dass sich an der Stelle, wo sie gestanden hatte, nichts befand. Keine Spur von ihr, sie war einfach verschwunden. Nicht einmal die Grashalme waren abgeknickt, an der Stelle, an der sie gestanden hatte, und er befand sich auch nicht einmal auf einem Weg umgeben von einem Wald. Er stand mutterseelenallein auf einem weiten Feld in der Nähe der Straße von Bushmills nach Derrykeighan und schrie sich fast die Seele aus dem Leib. Es hatte soeben zu regnen begonnen, und jetzt erst wurde ihm klar, dass er in Clontarf selbst überhaupt kein richtiges Wetter erlebt hatte. Für einen Moment zweifelt er, ob er sich die ganze Sache womöglich nur eingebildet hatte, da spürte er plötzlich in seiner Tasche das kleine Band von Jennifers Zopf in der Hand, das er eingesteckt hatte, und Tränen liefen ihm über die Wangen.
Natürlich ließ er es in den nächsten Wochen nicht dabei bewenden, sondern kam jeden Tag an die Stelle zurück, wo er auf Clontarf gestoßen war, doch er konnte nichts tun, und so musste er irgendwann einsehen, dass er Jennifer für immer verloren hatte, seiner Neugierde wegen und weil er alles auf einmal hatte haben wollen.
So und nicht anders erzählten uns die alten Frauen des Dorfes die Geschichte des Mannes, dem von seiner großen Liebe nichts geblieben war als ein grünes Band.
© 2003
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