Wednesday, December 25. 2013
Etwas Irreales
Es war nicht zu fassen, dass der Tag begonnen hatte wie jeder andere. Tage sollten einleiten, was sie einem antaten, damit man Bescheid wusste, damit man gewarnt war. Tage waren selten gut, aber meistens grausam, sie waren selten schön, aber meistens hässlich. Sie gaben einem viel, aber nahmen einem dann wieder alles. Und was die Nacht einem nicht wiedergab, fehlte einem für immer.
Es hatte schneien sollen und war kalt genug dafür, nicht aber zu kalt, nichts zu Eis erstarrt. Außer Herzen vielleicht. Manche zumindest.
Vincent sah sich mit dem Finger über das Holz seines Tisches streichen, den unfertigen Brief an seinen Bruder umrandend, umrahmend. Nichts stand darin. Nichts zumindest, das irgendetwas erklärt hätte.
Er und Paul hatten sich gestritten. Natürlich hatten sie sich gestritten. Tag und Nacht waren sie sich gegenseitig an die Gurgel gegangen. Wollte Paul Wärme, wollte er es kühl, wollte Paul im Haus bleiben, zog es ihn nach draußen, war er hellwach, wollte Paul schlafen. Natürlich also stritten sie. Aber das war nicht alles.
Es hatte noch viele weitere große Hindernisse zu überwinden gegeben, insbesondere hier in goldgelb gefärbter Enge. Allerdings waren diese Hindernisse viel eher in ihrer beider Innersten zu finden als in einem Haus oder auf einer Straße.
Paul würde sich entscheiden müssen. Gründlich überlegen und alles genau abwägen. Wo findet ein machtvoller, schöpferischer Geist seinen Frieden, wenn nicht hier? Er musste sich das ganz ernsthaft überlegen und sich bald entscheiden.
Das stand da in dem Brief, mehr oder weniger. Doch das war nichts. Das hätte sogar Rachel begriffen, dass da praktisch nichts stand. Auch wenn sie im Grunde nichts Wirkliches wusste. Wann wusste man denn schon Bescheid über sich, geschweige denn über andere Menschen?
Was hatte er über Paul gewusst? Sicher nicht das. Er war ihm nachgerannt? Wirklich? Es war zu lächerlich, das so aufzuschreiben. Das hätte man nicht beschreiben, schon gar nicht malen wollen. Irre malten aber so, nicht wahr?
Paul hatte also behauptet, er, der Irre, sei ihm nachgerannt. Ihm nachgerannt, während er, Paul, auf einem Nachtspaziergang war (sic!). Na, ganz gewiss, das war ja immer seine Art, sich so viel wie möglich im Freien aufzuhalten, ausgedehnte Spaziergänge.
Das einzig Wahre an seiner Darstellung war der eine Satz: „Du schweigst, doch ich werde auch schweigen.“ Das hatte er Paul fürwahr nachgerufen. Nachgeschrien sogar!
Aber war das genug?
Wie oft hatte er das nun schon getan, geschwiegen? Wie oft hatte er zugehört, wenn Paul über dies und das und jenes sprach. Über Kunst. Über Weiber. Über Gott und die verdammte Welt? Wie oft hatte er ihm ein Ohr geliehen? Ein Ohr geliehen. Das war Pauls Lieblingsausdruck, er kannte ihn gleich in mehreren Sprachen. Aber über Kunst ließ sich sehr wohl noch mehr streiten als über Wärme und Kälte oder drinnen und draußen, ebenso mit allen Waffen wie über die Liebe.
Ein unseliges Wort, wenn nicht das unseligste überhaupt, die Liebe. Das war das erste gewesen, das er dem Bruder hatte erzählen wollen, als jener an sein Bett geeilt war ausgerechnet am Vorweihnachtsabend. Dass Liebe ein unseliges Wort war, wenn nicht das unseligste überhaupt. Ausgerechnet am Vorweihnachtsabend. Doch wer sich ohnehin jede Gnade verscherzt hatte, ganz und gar grundsätzlich, der hatte auch keine Rücksicht mehr übrig für den richtigen Zeitpunkt. Richtig, falsch, gut, böse, Liebe, Hass, was war das alles?
Er hasste Rachel nicht. Ganz bestimmt nicht. Warum auch? Sie hatte Paul gut getan. Sie hatte auch ihm gut getan, eine Zeit lang. Sie war wunderschön, sofern man es noch zuließ, das zu sehen, ihr Gesicht, ihren Körper. Aber auch hier wieder: schön, hässlich? Sie war eine Frau, sie war jung, sie lachte gern. Hatte nicht gelacht, als er seine Drohung wahr gemacht hatte. Aber das war etwas vollkommen anderes.
Sie war dazwischen gekommen. Kam immer irgendwie dazwischen. Hatte Bestand. Ja, sicher, er hatte sie geholt. Kommen lassen. Gewohnheit? Usus? Konvention? Notwendigkeit und alles drei oben drauf. Und dann noch dreimal jung, jung jung. Paul hatte nichts anderes im Sinn als Jugend. Ganz wie ein Köter frische Fleischbrocken begehrte. Paul und sein Fleisch. Seine Lust. Lust an der Jugend.
Und er? Vincent? Jugend? Da blieb er schon lieber bei den Dingen, den Bauten oder Landschaften. Und bei der Natur. Hier lag alles, Alter, Schönheit, Leben, Liebe in den Augen des Betrachters, im verewigten Augenblick. Hatte der Mann denn eine Ahnung, was schön war, betrachtete er Leben oder Lust? Hier schied sich Liebe von Liebe. Hier wusste man ganz schnell, was von Dauer war, was Substanz hatte. Verkehr mit einer Prostituierten sicher nicht.
Aber er war ja der Kranke. Das hatte Paul mit Wonne gegen ihn verwendet, um ihm und all seinen Worten und ebenso seiner Kunst per se Unglaubwürdigkeit zu attestieren. Das hatte dieser windige Geschäftemacher sich nicht einmal gut ausgedacht, denn diese Vincent-Bilder waren schließlich die eines Verrückten, das wusste doch alle Welt.
Dann konnte er auch all das sagen und tun, was ein Verrückter sagen und tun würde. Paul hatte ihm hier viel Spielraum gelassen. Schweigen. Na gut, wenn es mehr nicht war? Aber ihn zum Bleiben zu bewegen – trotzdem! Wie sollte ihm das gelingen? Es war doch schon alles verloren. Rachel hatte es nur noch nicht gewusst.
Es war Mord, was hier geschehen war, nicht einfach nur Fortgehen, Verlassen, Flucht. In den Minuten des Zusammenraffens der wichtigsten Kleinigkeiten, der unverzichtbaren Habseligkeiten, hatte Paul seinen Mord begangen, ganz geplant und bewusst. Seine Waffe war die Einsamkeit, die schwermütige Einsamkeit, in die er vollkommen hilflos geraten würde, sobald sich die Tür hinter Paul schloss.
Keine Bilder, kein Gefühl, nichts von wirklichem Wert hatte er mitgenommen. Selbst das vermaledeite Ohr hatte er da gelassen; frei, es der Nutte zu geben, die in bestimmten Stunden zwischen ihnen gestanden, zwischen ihnen gelegen hatte.
Gefühl war etwas Irreales, hervorgerufen in Irrealem, durch Irreales, nicht mal steuern konnte man es, es beherrschte jeden, wie Wahnsinn jeden beherrscht. Und so wie ein Gefühl jemanden in den Wahnsinn treiben konnte, war es ein Ausdruck von Wahnsinn. Liebe passte da nicht hinein. Die fand sich noch eher am kalten Nachthimmel als in den Armen eines anderen Menschen. Wenn doch dieser nicht fühlte, was jener fühlt. Das hatte er wohl alles begriffen, Paul, hatte es aber verändert, verwässert, verleugnet, und nannte es Schweigen.
Ich nenne es Mord. Das sollte er dem Bruder schreiben. Mord! Und dass der eine Mörder entfliehen konnte. Und dann noch: Ich, mein geliebter Bruder, kenne aber noch einen zweiten Mörder. Und du kennst ihn auch.
© 2013, 17
Es hatte schneien sollen und war kalt genug dafür, nicht aber zu kalt, nichts zu Eis erstarrt. Außer Herzen vielleicht. Manche zumindest.
Vincent sah sich mit dem Finger über das Holz seines Tisches streichen, den unfertigen Brief an seinen Bruder umrandend, umrahmend. Nichts stand darin. Nichts zumindest, das irgendetwas erklärt hätte.
Er und Paul hatten sich gestritten. Natürlich hatten sie sich gestritten. Tag und Nacht waren sie sich gegenseitig an die Gurgel gegangen. Wollte Paul Wärme, wollte er es kühl, wollte Paul im Haus bleiben, zog es ihn nach draußen, war er hellwach, wollte Paul schlafen. Natürlich also stritten sie. Aber das war nicht alles.
Es hatte noch viele weitere große Hindernisse zu überwinden gegeben, insbesondere hier in goldgelb gefärbter Enge. Allerdings waren diese Hindernisse viel eher in ihrer beider Innersten zu finden als in einem Haus oder auf einer Straße.
Paul würde sich entscheiden müssen. Gründlich überlegen und alles genau abwägen. Wo findet ein machtvoller, schöpferischer Geist seinen Frieden, wenn nicht hier? Er musste sich das ganz ernsthaft überlegen und sich bald entscheiden.
Das stand da in dem Brief, mehr oder weniger. Doch das war nichts. Das hätte sogar Rachel begriffen, dass da praktisch nichts stand. Auch wenn sie im Grunde nichts Wirkliches wusste. Wann wusste man denn schon Bescheid über sich, geschweige denn über andere Menschen?
Was hatte er über Paul gewusst? Sicher nicht das. Er war ihm nachgerannt? Wirklich? Es war zu lächerlich, das so aufzuschreiben. Das hätte man nicht beschreiben, schon gar nicht malen wollen. Irre malten aber so, nicht wahr?
Paul hatte also behauptet, er, der Irre, sei ihm nachgerannt. Ihm nachgerannt, während er, Paul, auf einem Nachtspaziergang war (sic!). Na, ganz gewiss, das war ja immer seine Art, sich so viel wie möglich im Freien aufzuhalten, ausgedehnte Spaziergänge.
Das einzig Wahre an seiner Darstellung war der eine Satz: „Du schweigst, doch ich werde auch schweigen.“ Das hatte er Paul fürwahr nachgerufen. Nachgeschrien sogar!
Aber war das genug?
Wie oft hatte er das nun schon getan, geschwiegen? Wie oft hatte er zugehört, wenn Paul über dies und das und jenes sprach. Über Kunst. Über Weiber. Über Gott und die verdammte Welt? Wie oft hatte er ihm ein Ohr geliehen? Ein Ohr geliehen. Das war Pauls Lieblingsausdruck, er kannte ihn gleich in mehreren Sprachen. Aber über Kunst ließ sich sehr wohl noch mehr streiten als über Wärme und Kälte oder drinnen und draußen, ebenso mit allen Waffen wie über die Liebe.
Ein unseliges Wort, wenn nicht das unseligste überhaupt, die Liebe. Das war das erste gewesen, das er dem Bruder hatte erzählen wollen, als jener an sein Bett geeilt war ausgerechnet am Vorweihnachtsabend. Dass Liebe ein unseliges Wort war, wenn nicht das unseligste überhaupt. Ausgerechnet am Vorweihnachtsabend. Doch wer sich ohnehin jede Gnade verscherzt hatte, ganz und gar grundsätzlich, der hatte auch keine Rücksicht mehr übrig für den richtigen Zeitpunkt. Richtig, falsch, gut, böse, Liebe, Hass, was war das alles?
Er hasste Rachel nicht. Ganz bestimmt nicht. Warum auch? Sie hatte Paul gut getan. Sie hatte auch ihm gut getan, eine Zeit lang. Sie war wunderschön, sofern man es noch zuließ, das zu sehen, ihr Gesicht, ihren Körper. Aber auch hier wieder: schön, hässlich? Sie war eine Frau, sie war jung, sie lachte gern. Hatte nicht gelacht, als er seine Drohung wahr gemacht hatte. Aber das war etwas vollkommen anderes.
Sie war dazwischen gekommen. Kam immer irgendwie dazwischen. Hatte Bestand. Ja, sicher, er hatte sie geholt. Kommen lassen. Gewohnheit? Usus? Konvention? Notwendigkeit und alles drei oben drauf. Und dann noch dreimal jung, jung jung. Paul hatte nichts anderes im Sinn als Jugend. Ganz wie ein Köter frische Fleischbrocken begehrte. Paul und sein Fleisch. Seine Lust. Lust an der Jugend.
Und er? Vincent? Jugend? Da blieb er schon lieber bei den Dingen, den Bauten oder Landschaften. Und bei der Natur. Hier lag alles, Alter, Schönheit, Leben, Liebe in den Augen des Betrachters, im verewigten Augenblick. Hatte der Mann denn eine Ahnung, was schön war, betrachtete er Leben oder Lust? Hier schied sich Liebe von Liebe. Hier wusste man ganz schnell, was von Dauer war, was Substanz hatte. Verkehr mit einer Prostituierten sicher nicht.
Aber er war ja der Kranke. Das hatte Paul mit Wonne gegen ihn verwendet, um ihm und all seinen Worten und ebenso seiner Kunst per se Unglaubwürdigkeit zu attestieren. Das hatte dieser windige Geschäftemacher sich nicht einmal gut ausgedacht, denn diese Vincent-Bilder waren schließlich die eines Verrückten, das wusste doch alle Welt.
Dann konnte er auch all das sagen und tun, was ein Verrückter sagen und tun würde. Paul hatte ihm hier viel Spielraum gelassen. Schweigen. Na gut, wenn es mehr nicht war? Aber ihn zum Bleiben zu bewegen – trotzdem! Wie sollte ihm das gelingen? Es war doch schon alles verloren. Rachel hatte es nur noch nicht gewusst.
Es war Mord, was hier geschehen war, nicht einfach nur Fortgehen, Verlassen, Flucht. In den Minuten des Zusammenraffens der wichtigsten Kleinigkeiten, der unverzichtbaren Habseligkeiten, hatte Paul seinen Mord begangen, ganz geplant und bewusst. Seine Waffe war die Einsamkeit, die schwermütige Einsamkeit, in die er vollkommen hilflos geraten würde, sobald sich die Tür hinter Paul schloss.
Keine Bilder, kein Gefühl, nichts von wirklichem Wert hatte er mitgenommen. Selbst das vermaledeite Ohr hatte er da gelassen; frei, es der Nutte zu geben, die in bestimmten Stunden zwischen ihnen gestanden, zwischen ihnen gelegen hatte.
Gefühl war etwas Irreales, hervorgerufen in Irrealem, durch Irreales, nicht mal steuern konnte man es, es beherrschte jeden, wie Wahnsinn jeden beherrscht. Und so wie ein Gefühl jemanden in den Wahnsinn treiben konnte, war es ein Ausdruck von Wahnsinn. Liebe passte da nicht hinein. Die fand sich noch eher am kalten Nachthimmel als in den Armen eines anderen Menschen. Wenn doch dieser nicht fühlte, was jener fühlt. Das hatte er wohl alles begriffen, Paul, hatte es aber verändert, verwässert, verleugnet, und nannte es Schweigen.
Ich nenne es Mord. Das sollte er dem Bruder schreiben. Mord! Und dass der eine Mörder entfliehen konnte. Und dann noch: Ich, mein geliebter Bruder, kenne aber noch einen zweiten Mörder. Und du kennst ihn auch.
© 2013, 17
(Page 1 of 1, totaling 1 entries)