Tuesday, June 23. 2009
Momentaufnahme
In einer Zeit als wir noch auf der Suche danach waren, was denn das andere Geschlecht so zu bieten hätte, traf Kim auf Katrin. Kim, den alle, nach seinem Nachnamen, Widdo nannten, hatte an dem Tag bereits reichlich Stress mit seinem Alten, einen Rauswurf aus der Schule wegen Rauchens und die Herausgabe seines letzten Geldes für die restlichen 13 Tage des Monats an irgendeiner Pommesbude hinter sich. Für eine Currywurst, klassisch, geschnitten, Tomatenketchup und Curry obendrauf.
Das Curry hatte sich gelber und pudriger denn je auf der dunkelroten, samtenen Soßenspur breit gemacht. Er hatte es genossen, die geschnittenen Wurststückchen ein wenig abzuschütteln, so dass sich das überschüssige Curry in die Papierschale entlud, wo das Pulver sich dann doch noch mit dem übrigen Ketchup vermischen konnte.
Als er zurück zum Platz kam, dem Platz, an dem sich alle immer trafen, war er zufrieden und unzufrieden zugleich, und vielleicht war das der Grund, warum er so zugänglich war für neue Eindrücke.
Katrin saß, wie so oft, allein auf einer der Lehnen der Bänke um den Platz herum, und sie kaute an einem Kaugummi, der ihr offfenbar immer mal wieder in den Zähnen hing. Sie half dezent mit dem Zeigefinger nach und hatte dabei die Augen geschlossen.
Wie seltsam das war, dass man im einen Moment einen Menschen sehen konnte, und er war da, und im anderen Moment sah man ihn nicht, obwohl er da war. Und noch seltsamer, dass sich das Sehen schon in der nächsten Minute ändern konnte, andere Farben, andere Konturen, andere Bewegungen. Sogar Zeitlupe oder -raffer konnten wahlweise eingestellt werden wie beim Ändern von Videospuren.
Ich sehe dich, wusste Kim mit einem mal und sah Katrin an, sagte aber nichts. Später würde er begreifen, dass dies wohl der Moment war, den eine andere, reichlich alte Geschichte mit "sie erkannten sich" bezeichnet. Doch der Augenblick des tatsächlichen, gefühlten Erlebens ließ solch eine Analyse natürlich nicht zu.
Kim wusste nur eines: Es war, so dumm es klang, selbst wenn man es nicht laut aussprach, das allererste Mal, dass er Katrin "sah", und das blockierte alle seine Gedanken.
"Heya", sagte er so beiläufig wie möglich und setzte sich auf die zweite Bank direkt neben Katrins. Regelrecht verwirrt nahm diese zur Kenntnis, dass sie gegrüßt worden war. Und vor allem von wem.
"Äh, hi", brachte sie heraus, und fummelte dann betreten den vermaledaiten Kaugummi endgültig aus ihrem Mund. Sie wickelte ihn ein Papiertaschentuch, das sie wo auch immer her genommen hatte und steckte das Ding zusammengeknüllt in ihre enge Jeanstasche.
"Hi, Widdo", ergänzte sie krächzend.
"Kim", sagte Kim, und: "Komisches Wetter heute, was?"
Katrin zuckte zusammen.
Sie hatte die Worte gehört. Nun musste sie antworten, denn so verlangte es der Kodex, den wir Menschen uns gegeben haben, dass wir nämlich antworten, sogar dann, wenn wir nicht direkt etwas gefragt werden.
Wie oft liest oder hört man, dass das ganze Leben in Bruchteilen von Sekunden vor einem ablaufen kann, zum Beispiel im Moment des Todes. Für Katrin war es so, dass sie alles, was sie von und über Kim wusste, und auch das, was nur vage in Zusammenhang mit ihm stand, als Erinnerungspaket sozusagen, ja, sogar als Substrat der Erinnerung, ablaufen sah.
Kim war beliebt. Er war beileibe nicht der attraktivste männliche Vertreter der Clicke von Platz, aber er war auch nicht hässlich, konnte einem sogar schöner vorkommen als er vermutlichg war, wenn er seinen Charme einsetzte. Nicht dass sie diese Erfahrung bisher gemacht hätte. Und das obwohl sie immer da war, wo er war, an der Seite einer jeder seiner Ex-Freundinnen zum Beispiel, oder an der Seite derer, die, trotz besserer Voraussetzungen als sie selbst, schon keine Chance haben würden.
Er fuhr ein Moped, was ihn für viele zu einem der Coolsten machte, und er wusste praktisch alles über Filme, was ihn für die Platz-Akademie nachhaltig qualifizierte, wo der DVD-Wahn seit Jahren nicht nachgelassen hatte. Was also war das hier? Was wollte er von ihr?
"Machst'n so?" fuhr Kim jetzt fort.
"Wart' auf Ina", purzelte es postwendend aus Katrins Mund.
"Wirklich?" runzelte Kim die Stirn. "Die hat doch Training. Dienstag?"
Woher der das wusste, war Katrin absolut schleierhaft; aber es war ja auch egal, sie war ertappt, und daraufhin hatte man rot zu werden.
Die roten Flecken, die sich jetzt auf Katrins Wangen sammelten, griffen nach Kim und rissen irgendetwas in ihm vereint an einen Fleck und pressten es zusammen. War das tatsächlich so wie er es fühlte? Sammelte sich in seinem Magen irgendwie Blut oder eine andere Flüssigkeit? Zogen sich Muskeln zusammen, die diese Flüssigkeit zum Hochkochen zusammendrückten? Oder saß das tiefer?
"Dann hast du jetzt wohl nichts vor?" fragte er leise, mit gesenktem Kopf und rauer, sanfter Stimme. Und er wartete bewusst nicht auf ihre Antwort, sondern fuhr fort:
"Ich nämlich auch nich'!"
© 2009
Das Curry hatte sich gelber und pudriger denn je auf der dunkelroten, samtenen Soßenspur breit gemacht. Er hatte es genossen, die geschnittenen Wurststückchen ein wenig abzuschütteln, so dass sich das überschüssige Curry in die Papierschale entlud, wo das Pulver sich dann doch noch mit dem übrigen Ketchup vermischen konnte.
Als er zurück zum Platz kam, dem Platz, an dem sich alle immer trafen, war er zufrieden und unzufrieden zugleich, und vielleicht war das der Grund, warum er so zugänglich war für neue Eindrücke.
Katrin saß, wie so oft, allein auf einer der Lehnen der Bänke um den Platz herum, und sie kaute an einem Kaugummi, der ihr offfenbar immer mal wieder in den Zähnen hing. Sie half dezent mit dem Zeigefinger nach und hatte dabei die Augen geschlossen.
Wie seltsam das war, dass man im einen Moment einen Menschen sehen konnte, und er war da, und im anderen Moment sah man ihn nicht, obwohl er da war. Und noch seltsamer, dass sich das Sehen schon in der nächsten Minute ändern konnte, andere Farben, andere Konturen, andere Bewegungen. Sogar Zeitlupe oder -raffer konnten wahlweise eingestellt werden wie beim Ändern von Videospuren.
Ich sehe dich, wusste Kim mit einem mal und sah Katrin an, sagte aber nichts. Später würde er begreifen, dass dies wohl der Moment war, den eine andere, reichlich alte Geschichte mit "sie erkannten sich" bezeichnet. Doch der Augenblick des tatsächlichen, gefühlten Erlebens ließ solch eine Analyse natürlich nicht zu.
Kim wusste nur eines: Es war, so dumm es klang, selbst wenn man es nicht laut aussprach, das allererste Mal, dass er Katrin "sah", und das blockierte alle seine Gedanken.
"Heya", sagte er so beiläufig wie möglich und setzte sich auf die zweite Bank direkt neben Katrins. Regelrecht verwirrt nahm diese zur Kenntnis, dass sie gegrüßt worden war. Und vor allem von wem.
"Äh, hi", brachte sie heraus, und fummelte dann betreten den vermaledaiten Kaugummi endgültig aus ihrem Mund. Sie wickelte ihn ein Papiertaschentuch, das sie wo auch immer her genommen hatte und steckte das Ding zusammengeknüllt in ihre enge Jeanstasche.
"Hi, Widdo", ergänzte sie krächzend.
"Kim", sagte Kim, und: "Komisches Wetter heute, was?"
Katrin zuckte zusammen.
Sie hatte die Worte gehört. Nun musste sie antworten, denn so verlangte es der Kodex, den wir Menschen uns gegeben haben, dass wir nämlich antworten, sogar dann, wenn wir nicht direkt etwas gefragt werden.
Wie oft liest oder hört man, dass das ganze Leben in Bruchteilen von Sekunden vor einem ablaufen kann, zum Beispiel im Moment des Todes. Für Katrin war es so, dass sie alles, was sie von und über Kim wusste, und auch das, was nur vage in Zusammenhang mit ihm stand, als Erinnerungspaket sozusagen, ja, sogar als Substrat der Erinnerung, ablaufen sah.
Kim war beliebt. Er war beileibe nicht der attraktivste männliche Vertreter der Clicke von Platz, aber er war auch nicht hässlich, konnte einem sogar schöner vorkommen als er vermutlichg war, wenn er seinen Charme einsetzte. Nicht dass sie diese Erfahrung bisher gemacht hätte. Und das obwohl sie immer da war, wo er war, an der Seite einer jeder seiner Ex-Freundinnen zum Beispiel, oder an der Seite derer, die, trotz besserer Voraussetzungen als sie selbst, schon keine Chance haben würden.
Er fuhr ein Moped, was ihn für viele zu einem der Coolsten machte, und er wusste praktisch alles über Filme, was ihn für die Platz-Akademie nachhaltig qualifizierte, wo der DVD-Wahn seit Jahren nicht nachgelassen hatte. Was also war das hier? Was wollte er von ihr?
"Machst'n so?" fuhr Kim jetzt fort.
"Wart' auf Ina", purzelte es postwendend aus Katrins Mund.
"Wirklich?" runzelte Kim die Stirn. "Die hat doch Training. Dienstag?"
Woher der das wusste, war Katrin absolut schleierhaft; aber es war ja auch egal, sie war ertappt, und daraufhin hatte man rot zu werden.
Die roten Flecken, die sich jetzt auf Katrins Wangen sammelten, griffen nach Kim und rissen irgendetwas in ihm vereint an einen Fleck und pressten es zusammen. War das tatsächlich so wie er es fühlte? Sammelte sich in seinem Magen irgendwie Blut oder eine andere Flüssigkeit? Zogen sich Muskeln zusammen, die diese Flüssigkeit zum Hochkochen zusammendrückten? Oder saß das tiefer?
"Dann hast du jetzt wohl nichts vor?" fragte er leise, mit gesenktem Kopf und rauer, sanfter Stimme. Und er wartete bewusst nicht auf ihre Antwort, sondern fuhr fort:
"Ich nämlich auch nich'!"
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