Friday, May 8. 2009
Achtgeschichten
Für alle Kinder, die mal acht Jahre alt waren oder es gerade sind
Natalie
Als ich acht war, bekam mein Vater ein Baby. Na ja, nicht mein Vater, natürlich. Ilke bekam das Baby. Ilke war die Freundin von meinem Vater, und inzwischen ist sie seine Frau.
Aber ich wollte eigentlich nicht von Ilke erzählen, auch wenn ich sie inzwischen ganz in Ordnung finde, ich wollte von dem Baby erzählen.
Das Baby wurde an Weihnachten geboren, darum nannten wir es Natalie, und ich weiß noch, daß ich dachte, es wäre mein schönstes Weihnachtsgeschenk. Ich hatte endlich eine kleine Schwester.
Sie hatte ein kleines, ganz runzeliges Gesicht und noch kleinere, runzelige Finger. Und als ich nach ihrer winzigen Hand griff, hielten die klitzekleinen Finger meinen Daumen fest, als wollten sie ihn nie mehr los lassen.
In der ersten Zeit wollte ich fast nur noch bei Natalie sein, obwohl das hieß, daß ich dann nicht gleichzeitig bei meiner Mutter sein konnte. Meine Mutter war ja nun mal nicht ihre Mutter, und das machte alles schwieriger.
Manchmal wünschte ich, mein Vater hätte nie eine andere Frau gefunden, aber das mit Mama hatte nun mal nicht geklappt, und niemand konnte erwarten, daß er allein blieb, auch ich nicht. Eigentlich wußte ich das, aber zornig war ich trotzdem darüber, damals, denn ich wurde nicht gefragt. Kinder werden nie gefragt.
Wenn ich's mir recht überlege, hatte ich sogar großes Glück, denn der Vater von meiner Freundin Marina war weit weggezogen, und sie sah ihn dann nur noch selten. Meine Eltern leben nicht weit von einander entfernt, und wie gesagt ist Ilke ganz in Ordnung. Sie versteht sich sogar mit meiner Mama, obwohl ich früher oft schon gedacht hatte, daß sie manchmal etwas eifersüchtig war, weil meine Eltern noch immer nett zu einander sein können.
Aber mit Natalie wurde dann alles anders. Ich bekam ein Zimmer in Ilkes Wohnung, wo wir von nun an zu viert wohnten, wenn ich da war. Ilke machte mir mein Lieblingsessen, Mozzarella und Tomaten mit Basilikum und Zitrone. Sie kümmerte sich auch toll um das Baby, und Papa und ich schlichen auf Zehenspitzen über den Flur, um das kleine Würmchen nicht zu stören.
Als Natalie älter wurde und viel mehr wollte und konnte und auch durfte, da wurde wiederum ich oft eifersüchtig, besonders wenn ich wußte, daß Natalie allein mit Ilke und meinem Vater war. Ich weiß noch, ich hatte so große Angst, daß sie mir den Papa wegnehmen könnte, daß ich immer böse wurde, wenn ich das Gefühl hatte, daß alle sich nur um sie kümmerten. Außerdem fand ich es blöd, wenn sie alles anders machen wollte als ich und wenn ihr nicht die gleichen Sachen schmeckten wir mir. Auch, daß ihre Lieblingsfarbe nicht dieselbe war wie meine.
Ganz besonders schlimm fand ich es allerdings, als meine Mama sich zum ersten Mal anbot, daß wir Natalie auch mal zu uns nehmen könnten, denn eine Mama zu teilen, ist noch etwas ganz anderes. Aber als ich ihr sagte, daß ich nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte, wenn Natalie käme, lachte meine Mutter. Dann erklärte sie mir, daß sie mich doch auch teilen müsse, und zwar mit Papa und Ilke, und das sei gut so. Denn jeder Mensch braucht einen Vater und eine Mutter, und mache haben zum Glück sogar zwei.
Jetzt wird übrigens Natalie selbst bald acht, und wir werden alle feiern wie die Wilden - gemeinsam. Sie ist eine tolle kleine Schwester.
Tränen
Als ich acht Jahre alt wurde, weinte meine Mutter. Sie weinte natürlich nicht meinetwegen, dazu hatte sie mich viel zu lieb. Aber wie sich später herausstellen sollte, hatte sie sehr viel Grund zum Weinen. Jetzt bin ich schon sehr alt geworden, aber ich kann mich immer noch daran erinnern, wie das war, damals, als ich acht wurde. Das war der 30. Januar 1933.
Viele Erwachsene werden sofort wissen, was das für ein Tag war, aber ich erkläre es gerne allen Kindern, denn damals wußte ich es nicht, ich war ja noch ein Kind, und wußte auch noch nicht, warum meine Mutter weinte.
An dem Tag, ausgerechnet an meinem Geburtstag, kam nämlich ein sehr schlechter Mann an die Macht. Von da an begann eine schlimme Zeit für viele Menschen in Deutschland. Alle, die anders waren, z.B. wegen ihrer Herkunft, ihrer Hautfarbe oder ihres Glaubens, mußten leiden und wurden verfolgt, gequält und getötet. Viele Deutsche haben bei diesem Verfolgen und Morden mitgemacht. Schließlich trieben die schlechten Leute Deutschland in einen fürchterlichen Krieg, bei dem Millionen von Menschen vieler Länder ihr Leben lassen mußten.
Was ich auch noch nicht wußte, als ich acht war, das war, daß ich zehn Jahre später in diesen Krieg ziehen müßte und daß ich erleben würde, wie es ist, Menschen sterben zu sehen, neben mir, vor mir und hinter mir. Mit acht dachte ich noch, daß Soldaten Helden wären, denn ich spielte gern mit kleinen, bunt bemalten Figuren aus Zinn, die sich gegenseitig erschossen. Bumm, fielen sie um, und ich lachte. Als ich dann selbst Soldat war, da lachte ich nicht mehr, da weinte ich, auch wenn ich es niemandem zeigte.
Als ich wieder nach Hause zurückkehrte, war der Krieg schon zwei Jahre aus. Die zwei Jahre hatte ich als Kriegsgefangener in Frankreich verbracht. Das heißt, ich mußte für eines der Länder arbeiten, mit denen wir Deutschen einen Krieg angefangen hatten, als Strafe sozusagen. Dabei hatte mich niemand gefragt, ob ich in diesen Krieg ziehen wollte, aber ich traute mich nicht, mich zu wehren, denn wer sich wehrte, dem erging es schlecht.
Als ich dann wieder zuhause war, blühten die Narzissen in unserem Garten, aber von den Menschen fand ich nur noch meine Mutter wieder, sie saß vor dem Rest unseres von Bomben zerstörten Hauses. Sie war ganz schmächtig und grau, obwohl sie damals lange noch nicht so alt war wie ich heute, und sie konnte es kaum glauben, daß ihr Jüngster zurückgekommen war. Mein Vater und meine beiden Brüder waren im Krieg gefallen.
Das alles begann mit den Tränen meiner Mutter an meinem achten Geburtstag, und noch heute, nach so vielen Jahren, holen mich diese Tränen manchmal ein, an meinem Geburtstag. Nur daß ich sie jetzt weine.
Rüber
Als ich gerade acht geworden war, weckte mich meine Mutter eines Nachts und legte den Finger auf ihre Lippen. Sie hatte nur die kleine Lampe neben meinem Bett angemacht, hielt mir meine Sachen hin und flüsterte, daß ich mich rasch anziehen sollte und bloß Oma nicht wach machen. Ich tat wie mir geheißen, obwohl ich sonst nicht gerade ein besonders braves Kind war. Aber mal abgesehen davon, daß ich noch gar nicht richtig wach war, während ich mir die Sachen anzog, merkte ich auch, daß etwas ganz Besonders passierte, also hielt ich meinen Mund und folgte.
So leise wie möglich verließen wir schon wenig später das Haus und schritten durch die dunkle Nacht, meine Mutter mit zwei Koffern und ich mit einer Decke unter dem Arm, die sie mir zum Tragen gegeben hatte.
Wir liefen die ganze Strecke nach Säritz zu Fuß, und ich war so müde, daß mir andauernd die Augen zufallen wollten. Aber meine Mutter schob mich mit einem der Koffer sanft weiter.
Als wir am Bahnhof ankamen, war es schon etwas hell geworden. Der erste Zug nach Lübbenau stand auch schon am Gleis. Damals ging es noch etwas gemütlicher zu, wenn man Bahn fuhr, denn der Schaffner wartete schon mal auf einen. An diesem Morgen blickte er ziemlich erstaunt zu mir herunter und sah dann meine Mutter an.
“Ja, Frau Roßberg, schon so früh? Und Frank ist auch dabei?”
“Wir fahren zur Tante Lore nach Berlin!” rief meine Mutter fröhlich. Ich wußte sofort, daß da was nicht stimmen konnte, denn sonst hatten wir uns immer von Oma verabschiedet. Sie hatte uns sogar oft zum Bahnhof gebracht und uns nachgewinkt. Außerdem hatten Tante Johanna und Onkel Ernst uns immer etwas mitgegeben für die Tante Lore in Berlin oder uns aufgetragen, von dort etwas mitzubringen, was es bei uns am Ort nicht gab.
In Lübbenau stiegen wir um in den Schnellzug nach Berlin. Die Fahrt verging für mich wie im Flug, weil ich jedesmal, kaum daß die Räder losratterten, eingeschlafen war.
Auf dem Bahnhof in Berlin angekommen, suchte meine Mutter ganz offenbar nach irgendetwas, und wir liefen eine ganze Weile herum. Mir war kalt, aber ich traute mich nicht zu fragen, warum sie denn auf einmal den Weg zu Tante Lore vergessen hatte.
Plötzlich kamen Polizisten auf uns zu und fragten meine Mutter, wohin sie denn wolle. Sie erzählte von Tante Lore und nannte die Adresse.
Einer der Männer sah sie mißtrauisch an, dann warf er seinem Kollegen einen Blick zu, und der befahl uns, mitzukommen. Im hinteren Teil des Gleisbereiches hatten die Männer eine Wache, wo noch andere in Uniform herumsaßen. Jemand tippte etwas in eine Schreibmaschine, ein anderer füllte ein Formular für meine Mutter aus, das sie unterschreiben sollte.
Sie mußte ihren Ausweis und meinen Kinderausweis vorzeigen, dann wurden ihr immer wieder dieselben Fragen gestellt. Ob sie gewußt hätte, wohin manche der Züge an dem Bahnsteig führen. Ob sie vielleicht "rüber machen" wollte. Ob sie etwa auch die Gerüchte von einer Mauer glauben würde. Der Genosse Ulbricht hätte doch gesagt, daß das Blödsinn sei. Ob sie denn keine treue Staatsbürgerin sei. Und warum sie nicht gleich die richtige Bahn genommen habe.
Irgendwann gab ich mir einen Ruck.
“Kriege ich jetzt endlich mein Würstchen?” fragte ich so heulend wie mir zu Mute war, und drückte sogar ein paar Tränen hervor.
“Würstchen?” fragten die Beamten wie aus einem Mund.
“Ja!” sagte meine Mutter mit zittriger Stimme. “Der Junge wollte ein Würstchen nach der langen Fahrt. Danach haben wir doch die ganze Zeit gesucht!”
“Ein Würstchen!” lachte einer der Männer. “Na, gut! Dann kommen Sie mal mit!”
Er griff nach unseren Koffern und marschierte vor uns her zielstrebig auf eine kleine Würstchenbude am anderen Ende des Gleises zu.
“Warten Sie hier!” bellte er, als wir ihm nicht schnell genug folgten. Die restliche Strecke legte er, trotz der Koffer, in Riesenschritten zurück.
In diesem Moment kam eine hellgelbe Bahn an, in die keiner am Gleis einstieg und aus der auch keiner ausstieg. Im letzten Augenblick jedoch, als sich die Türen gerade wieder schließen wollten, schubste meine Mutter mich hinein und sprang, nur mit ihrer Handtasche am Arm, hinterher.
Ich habe meine Oma leider nicht mehr wieder sehen können, denn sie starb ein paar Jahre später. Die Mauer jedoch, von der damals niemand etwas wissen wollte, stand achtundzwanzig Jahre lang. Sie wurde am ab 13. August 1961 errichtet, auf den Tag genau ein Jahr nach unserer Flucht.
Ich erinnere mich immer noch an den Polizisten, wie er auf dem Bahnsteig stand, in der einen Hand die Würstchen, in der anderen unsere beiden Koffer, während meine Mutter, die mich fest an sich drückte, als die Bahn losfuhr, ihm lächelnd zuwinkte.
Molly
An meinem achten Geburtstag bekam ich einen Hund. Es war ein winzig kleines, schokofarbenes Wollknäuel mit einer glänzend schwarzen Nase, und es sah mich so lieb an, daß ich es nur an mich drücken konnte. Es war eine kleine Lady, und wir nannten sie Molly.
Sie bekam ein gelbes Halsband, das aus ihrem Fell herausleuchtete, daran hingen eine Hundemarke und ein kleines Glöckchen. In ihr rechtes Ohr bekam sie ein Tätowierung, damit niemand sie stehlen konnte.
Ich lernte Molly so sehr lieb haben, daß es mir schwer fiel, ohne sie irgend etwas zu unternehmen. Dabei mußte ich ganz viele Dinge ohne Molly tun, in die Schule gehen, zum Judo, zum Chor, zum Schachclub, zum Schwimmen.
Natürlich wußte ich, daß meine Mutter und auch mein kleiner Bruder gut auf Molly aufpassen würden, wenn ich weg war, aber ich hatte immer das Gefühl, nach Hause rennen zu müssen, auch als ich älter wurde. Molly wiederum wußte ganz genau, wann ich nach Hause kam, und so wußte es auch meine Mutter, denn Molly begann schon zu wedeln, wenn die letzte Schulstunde an einem Tag sich ihrem Ende zuneigte. Meine Mutter sagte immer, man könne glatt die Uhr nach dem Hund stellen.
Richtig aufgeregt wurde Molly, kaum daß ich in unsere Straße einbog, und wenn das Wetter es erlaubte, ließ meine Mutter sie häufig vor die Tür, damit sie mir die letzten Meter entgegen laufen konnte.
Wir wohnten in einer verkehrsarmen Seitenstraße am Stadtrand, und bei sonnigem Wetter pflegte ich lange Spaziergänge mit Molly über die angrenzenden Felder zu machen. Wenn es allerdings regnete, sah sie mich jedes Mal an, als verstünde sie die Welt nicht mehr, daß ich von ihr verlangte, sie solle rausgehen, wo man bekanntlich bei solch einem Wetter eben grade keinen Hund vor die Tür jagt. Raus mußte sie aber dennoch, und mit eingekniffenem Schwanz tat sie schließlich, wie ihr geheißen.
Einmal dachte ich, ich hätte Molly verloren, denn sie war wie immer von meiner Mutter vor die Tür gelassen worden, mir aber gar nicht begegnet. Als ich ins Haus kam, fragte meine Mutter erstaunt, wo ich denn den Hund gelassen hätte, und ich drehte auf dem Absatz um und lief die Straße entlang bis zum üblichen Treffpunkt. Und tatsächlich, Molly saß da. Eine blutende Pfote und eine verletzte Seite, hatte sie sich dennoch hier hergeschleppt, aber ich war schon weg gewesen.
Wir haben nie erfahren, was ihr passiert ist, ob sie doch von einem der seltenen, hier durchkommenden Autos angefahren worden war, oder sie jemand getreten hatte oder ob sie mit einem Wildtier aneinander geraten war. Der Tierarzt sagte, es sei allerhöchste Eisenbahn gewesen, sonst wäre sie für immer gegangen.
Molly ging erst, als ich alt genug wurde, das Elternhaus zu verlassen, da war sie schon sehr alt und grau und hatte ein blindes Auge. Manchmal frage ich mich, ob sie so lange gewartet hat, bis sie wußte, daß ich allein in die Welt ziehen konnte.
Paps
Als ich acht Jahre alt wurde, feierte ich meinen Geburtstag nicht.
Mein Vater, der nie krank gewesen war. Er hatte sich immer wohl gefühlt. Eines Tages jedoch war er zum Arzt gegangen, weil er dachte, er hätte sich den Magen verdorben. Der Arzt sagte ihm, er solle doch noch mal ins Krankenhaus gehen, um etwas zu überprüfen. Das war zum Ende der Sommerferien, und mein Geburtstag liegt Ende Oktober.
Mein Vater ging also ins Krankenhaus und wurde untersucht. Als der Arzt mit meiner Mutter sprach, was die Untersuchung ergeben hatte, war ich auch dabei, aber ich verstand kaum ein Wort. Es klang nach Onkel, was sie da sagten, aber daß das nicht sein konnte, war mir natürlich klar.
Auf jeden Fall merkte ich, daß es etwas Ernstes war, denn meine Mutter machte ein furchtbar erschrockenes Gesicht. Dann sprach der Arzt von einer Operation. Ich stellte mir vor, daß weiß gekleidete Männer mit Brillen und Hauben und mit Tüchern vor dem Mund, wie ich sie einmal auf einem Foto in der Zeitung gesehen hatte, um meinen Vater herum stehen würden und sich über ihn beugen, und mir wurde ganz schlecht bei dem Gedanken.
Die Operation fand schon am nächsten Tag statt, so eilig hatten es die Ärzte. Das bedeutete, daß ich meinen Vater vorher nur einmal besuchen konnte.
Er lag in seinem Bett und sah irgendwie seltsam aus, seine Haut war ganz gelb. Ich sagte nichts darüber, denn ich wollte ihn nicht beunruhigen.
“Na, Großer!? Schöne Scheiße, das hier, was?” sagte mein Vater und lächelte mich an.
“Hallo Paps!” brachte ich hervor und verstummte dann. Wirklich Scheiße, wollte ich noch sagen, aber ich kriegte es nicht heraus, sonst hätte ich sicher losgeheult, und das wollte ich auf gar keinen Fall.
Mein Vater redete dann wieder mit meiner Mutter über diese Onkeldinger, dann erzählte sie, das Sonja, meine kleine Schwester, bei der Nachbarin gut untergebracht sei. Schließlich gingen wir wieder, weil mein Vater plötzlich ganz erschöpft und müde aussah.
Am Tag nach der Operation riefen sie meine Mutter ins Krankenhaus. Ich mußte zur Schule, ob ich wollte oder nicht, aber was die Lehrerin damals erzählte, das habe ich nicht mitbekommen. Beim Mittagessen brachte ich kaum etwas herunter, und ich war froh, als der Hausaufgabenzirkel beendet war, und ich endlich nach Hause gehen konnte.
Als ich heim kam, war auch meine Mutter wieder da. Sie hatte Sonja gerade ins Bett gelegt, und mir sagte sie, ich solle mich ins Wohnzimmer setzten, damit sie mit mir reden könnte.
Sie setzte sich dann neben mich und sagte ganz leise, daß mein Paps gestorben sei, und zwar während der Operation. Sein Körper sei so angegriffen gewesen von der Krankheit, daß er die Anstrengungen bei dem schweren Eingriff nicht überlebt habe.
Ich habe es nicht geglaubt. Ich habe geschrien und geschimpft und ihr gesagt, daß sie mir meinen Paps bloß wegnehmen wollte, daß alle ihm was Böses tun wollten, vor allem diese Onkel, weil er doch sonst immer ganz gesund gewesen war. Und daß ich zum Krankenhaus gehen würde und ihn finden. Ich habe so laut geschrien, daß Sonja in ihrem Bettchen wach wurde und auch anfing zu schreien, und meine Mutter saß da und starrte vor sich hin.
Als mein Vater beerdigt wurde, da kamen viele Leute, die uns alle die Hand schütteln wollten und uns zumurmelten, wie leid es ihnen tat, aber ich war die ganze Zeit so wütend, daß ich sie am liebsten getreten hätte.
Dann kam der Herbst, und die Blätter fielen von den Bäumen.
In der Schule sammelten wir diese Blätter, die so schön bunt waren, und klebten sie in unsere Hefte, und die Lehrerin erzählte, daß jedes Jahr im Herbst die Bäume ihr Laub fallen ließen, und daß das immer schon so gewesen sei.
Während ich die Blätter in mein Heft klebte, wurde ich mit einmal Mal ganz furchtbar traurig und mußte an meinen Vater denken. Und da weinte ich zum ersten Mal.
Erst später erfuhr ich, daß die seltsamen Onkel in Wirklichkeit Onkologen waren, das heißt Ärzte, die Krebs behandeln.
An meinem achten Geburtstag war mir dann nicht zum Feiern zumute, und das Gefühl hielt auch noch sehr lange an.
Kalt
In dem Winter, als ich acht war, zogen wir nach Deutschland.
Zumindest denke ich, daß ich acht war, denn meine Mutter kann sich nur noch erinnern, daß es bei meiner Geburt geschneit hat, ein früher Winter in den anatolischen Bergen, so sagt sie. Das bedeutete, daß mein Vater erst im darauffolgenden Frühling in die Stadt kam, um meine Geburt zu melden, deswegen steht in meinem Paß ein Geburtsdatum Anfang März. Aber ich bin im Winter geboren, das ist sicher, und in dem Winter, als ich acht wurde, kamen wir nach Deutschland.
Obwohl ich den Winter kannte mit seinem Schnee und seinem klirrenden Frost, war mir nie zuvor so kalt gewesen wie in dieser ersten Zeit in Deutschland.
Wir zogen aus unserem kleinen Dorf, in dem ich nachts jedes Geräusch kannte, in eine dunkle und unheimliche Wohnung im vierten Stock eines Hauses in der Großstadt, in der mein Vater Arbeit gefunden hatte.
Weil ich noch kein Deutsch sprach, mußte ich anfangs mit meiner älteren Schwester zusammen an einem ganztägigen Deutschkurs teilnehmen, und dazu wir mußten jeden Morgen ganz früh mit der Straßenbahn fahren. Der Fahrer fuhr jedes Mal ohne uns los, wenn wir uns auch nur um eine Minute verspäteten, auch wenn er uns schon heranlaufen sah.
Wenn wir einkaufen gingen, dann warteten wir in einer ganz langen Schlange, bis die Kassiererin schließlich meiner Mutter ganz ungeduldig zusah, wie sie mühsam ihr Geld zusammen suchte.
Und als ich wenig später in eine deutsche Schule kam, wollten die Kinder in der Klasse kaum mit mir reden, und sie zogen jedes Mal ein Gesicht oder lachten, wenn ich etwas falsch aussprach. Am meisten wurde ich allerdings ausgelacht, weil ich nicht wußte, wie die Weihnachtsgeschichte ging.
Schnee gab es keinen in diesem Winter, dafür regnete es in einem fort, und ich dachte, das passe so gut zu meiner Stimmung, denn am liebsten hätte ich die ganze Zeit geweint.
Mein einziger Trost damals war der Vollmond, denn er war derselbe wie der in meinem Dorf, und er leuchtete genauso hell über der Stadt.
Wenn mich in dieser ersten Zeit jemand fragte, wie Deutschland denn so sei, dann sagte ich ganz spontan: kalt.
Sonne
Als ich acht war, reiste ich zum ersten Mal nach Israel. Von jeher fühlten sich meine Eltern sich mit diesem Land verbunden, obwohl wir keine Juden sind und auch keine Verwandten im Land haben.
Mein Vater war nicht bei der Bundeswehr gewesen, sondern hatte ein Jahr lang in Jerusalem für den Frieden gearbeitet und dabei Land, Menschen und Sprache gut kennen gelernt, und meine Mutter hatte eine langjährige Brieffreundschaft dort hingeführt.
So reisten sie dann auch mit uns Kindern wieder dort hin, obwohl unsere Großmutter immer vor Angst zitterte, daß uns dort etwas zustoßen könnte. Daß ihre Angst nicht unberechtigt war, stellten wir gleich bei diesem ersten Besuch fest.
Auch wir Kinder wußten natürlich schon, daß es in Israel viel Streit gab zwischen den Menschen dort, zwischen den Israelis und den Palästinensern, obwohl wir nie so ganz verstanden, warum das so sein mußte. Alles war dort so wunderschön, die saftigsten Orangen hingen fast bis zum Boden und die Palmen ragten hoch in den Himmel und warfen ihre reifen Datteln direkt vor unsere Füße, frisch und süß.
Dann sahen wir die alten Busse der Palästinenser und die neuen Busse der Israelis und dachten, daß die wohl unterschiedlich reich sein mußten. Und wir sahen, wie ein Palästinenser in der Altstadt von Jerusalem von israelischen Soldaten weggeschleppt wurde. Das sah so fürchterlich aus, daß ich anfing zu weinen, und ich heule sonst nie, obwohl ich ein Mädchen bin.
Später sahen wir, daß palästinensische Jugendliche mit einer bunten Fahne herumliefen und auf israelische Soldaten mit Steinen warfen. Und als wir dann nach Haifa fuhren und an der zentralen Busstation ausstiegen, da knallte es plötzlich in nächster Nähe so laut, daß ich aufschrie. Eine Bombe!
Alle Umstehenden rannten los in Richtung des Knalls, und weiß noch, daß ich dachte, wie mutig die wären. Ich sagte dies damals zu meinem Bruder und der lachte bloß. Da wo es gerade geknallt hat, ist es doch am sichersten, sagte er.
Verstanden habe ich von dem Streit der Israelis und Palästinenser damals wie gesagt nicht viel, nur dass sie gegen einander kämpften, und daß wir, die wir nicht dort wohnen, alles gar nicht beurteilen können.
Da ich, sommersprossig und rothaarig wie ich nun mal bin, nicht gerne brutzele wie ein Spiegelei, kämpfte ich dort einen ganz anderen Kampf. Ich versuchte, der Sonne zu entkommen.
Das Schwimmen im Roten Meer war wundervoll, besonders das Schnorcheln in den Korallen. Das Baden im Toten Meer war lustig und beängstigend zugleich, weil man kaum vorwärts kam, und das Süßwasser des Sees Genezareth war angenehm warm und mild, obwohl es nur noch so wenig Wasser gab in diesem Sommer, daß mein Bruder grinsend sagte, wenn da mal einer rübergelatscht sei, dann könne ihm das ja nicht besonders schwer gefallen sein, so flach wie der See ist.
Und bei alle diesen Gelegenheiten war ich stets bemüht, der Sonne zu entwischen, die es mir wirklich nicht leicht machte.
Dann kam mir der Zufall zu Hilfe, weil die alte Brieffreundin meiner Mutter in einen Moshav gezogen war. Die Eltern erklärten uns, daß ein Moshav eine Art Dorf ist, in dem alle Leute zusammenarbeiten und gemeinsam ihre Kinder aufziehen.
Als wir zu dem Moshav kamen, sahen wir, daß dort nicht nur Israelis wohnten, sondern auch Palästinenser, und nicht nur das. Bei näherem Hinschauen wurde es noch viel komplizierter. Dort wohnten jüdische Israelis und christliche Israelis und muslimische Israelis, sie hatten alle unterschiedliche Ideen und unterschiedlichen Glauben und auch unterschiedliche Herkunft, aber sie fühlten sich alle mit demselben Land verbunden und wollten in Frieden mit einander leben.
Auch vieles davon begriff ich erst Jahre später, aber der Moshav hatte so viele schöne schattige Plätzchen, daß ich so zufrieden war wie nie zuvor.
Wir verbrachten noch einige Ferien in Israel, obwohl die Dinge dort seit dem immer schwieriger geworden sind; wir fuhren immer wieder gern in den Moshav. Jene erste Reise aber blieb mir am meisten im Gedächtnis.
Auf dem Rückflug kamen mir damals plötzlich die Tränen. Neben mir saß ein älterer Herr, und als er sah, daß ich weinte, fragte er, was denn nur los sei, ob ich etwas da ließe in Israel. Und ausgerechnet ich sagte schluchzend: die Sonne.
Du liebe Zeit, sagte der Mann, die Sonne, immer diese Sonne. Ich hoffe nur, es regnet in Frankfurt!
Leben
Meine Eltern waren entschlossene Südfrankreichliebhaber. Diese Entschlossenheit brachte sie trotz unserer Nörgeleien jeden Sommer wieder auf die Straße, die uns eintausendfünfhunderteinundsechzig Kilometer nach Süden bringen sollte, wo wir in zwei einfachen Zelten drei Wochen auf harter Luft schliefen und uns von Tomaten und Käse ernährten. Wir brachten die Strecke in einem orangefarbenen VW Käfer hinter uns, zwei Erwachsene, zwei Kinder und ein Hund. So auch, als ich acht war, und in dem Jahr geschah es dann, daß auch ich Südfrankreich lieben lernte.
Auf der Landstraße Richtung Perpignan, einem Städtchen nahe der spanischen Grenze, hielten wir auf der damaligen Hinfahrt an, um uns ein wenig die Beine zu vertreten, und bestimmt auch, weil mein Bruder schon wieder was essen oder trinken mußte.
Ein paar der Leute, die sich dort aufhielten und auf mich wirkten wie bösartige alte Vogelscheuchen, beobachteten uns mit unbeweglicher Miene, als wir aus dem Auto stiegen. Ich wäre am liebsten gleich wieder weitergefahren. Haben die denn nichts zu tun, fragte ich mißmutig, wie lange müssen wir denn hier bleiben, und: ich hab doch gar keinen Hunger. Meine Mutter ging nicht auf mein Gestöhne ein, sondern schlug einen kurzen Spaziergang vor. Wir ließen meinen Bruder und meinen Vater wie so oft kauend beim Auto zurück, nahmen unseren Larkim an die Leine und gingen los. Wir spazierten die Straße entlang, am Zaun eines Bauernhofes vorbei, vor dem ein alter Mann auf einem kleinen Holzschemel saß und vor sich hinstarrte.
Genau in diesem Moment hüpfte ein kleines Küken durch eine Lücke im Zaun und war auf dem Weg Richtung Straße. Ich tat einen kleinen Schrei und hielt Larkim ganz fest, und meine Mutter machte ein paar Schritte und fing das ängstliche kleine Wesen ein. Sie barg es schützend in ihrer Hand und strahlte, als sie es mir zeigte, dann setzte sie es durch die Zaunlücke vorsichtig zurück auf den Hof. Wir freuten uns und hätten am liebsten die ganze Welt umarmt, und selbst Larkim sah froh aus, doch da sahen wir, wie im selben Moment unser Küken seinen letzten Atemzug tat. Die Katze des Hofes hatte das zarte Dinge erwischt, mit Haut und Federflaum. Da drückte ich Larkim weinend an mich, und er hielt ganz still, als wüßte er genau, was gerade passiert war. Meine Mutter stand ebenso unbeweglich da und auch ihr rollten Tränen über die Wangen.
Plötzlich stand der alte Mann hinter uns, der reglos auf dem Schemel gesessen hatte Er sah mich an und dann meiner Mutter ins Gesicht. Schließlich legte er ihr seine faltige, knochige Hand auf die Schulter und sagte heiser: C'est la vie.
Wie der alte Mann so dastand und meine Mutter tröstete, da wußte ich, was das bedeutet, c'est la vie, obwohl ich gar nicht Französisch sprach.
© 2001,9,20
Natalie
Als ich acht war, bekam mein Vater ein Baby. Na ja, nicht mein Vater, natürlich. Ilke bekam das Baby. Ilke war die Freundin von meinem Vater, und inzwischen ist sie seine Frau.
Aber ich wollte eigentlich nicht von Ilke erzählen, auch wenn ich sie inzwischen ganz in Ordnung finde, ich wollte von dem Baby erzählen.
Das Baby wurde an Weihnachten geboren, darum nannten wir es Natalie, und ich weiß noch, daß ich dachte, es wäre mein schönstes Weihnachtsgeschenk. Ich hatte endlich eine kleine Schwester.
Sie hatte ein kleines, ganz runzeliges Gesicht und noch kleinere, runzelige Finger. Und als ich nach ihrer winzigen Hand griff, hielten die klitzekleinen Finger meinen Daumen fest, als wollten sie ihn nie mehr los lassen.
In der ersten Zeit wollte ich fast nur noch bei Natalie sein, obwohl das hieß, daß ich dann nicht gleichzeitig bei meiner Mutter sein konnte. Meine Mutter war ja nun mal nicht ihre Mutter, und das machte alles schwieriger.
Manchmal wünschte ich, mein Vater hätte nie eine andere Frau gefunden, aber das mit Mama hatte nun mal nicht geklappt, und niemand konnte erwarten, daß er allein blieb, auch ich nicht. Eigentlich wußte ich das, aber zornig war ich trotzdem darüber, damals, denn ich wurde nicht gefragt. Kinder werden nie gefragt.
Wenn ich's mir recht überlege, hatte ich sogar großes Glück, denn der Vater von meiner Freundin Marina war weit weggezogen, und sie sah ihn dann nur noch selten. Meine Eltern leben nicht weit von einander entfernt, und wie gesagt ist Ilke ganz in Ordnung. Sie versteht sich sogar mit meiner Mama, obwohl ich früher oft schon gedacht hatte, daß sie manchmal etwas eifersüchtig war, weil meine Eltern noch immer nett zu einander sein können.
Aber mit Natalie wurde dann alles anders. Ich bekam ein Zimmer in Ilkes Wohnung, wo wir von nun an zu viert wohnten, wenn ich da war. Ilke machte mir mein Lieblingsessen, Mozzarella und Tomaten mit Basilikum und Zitrone. Sie kümmerte sich auch toll um das Baby, und Papa und ich schlichen auf Zehenspitzen über den Flur, um das kleine Würmchen nicht zu stören.
Als Natalie älter wurde und viel mehr wollte und konnte und auch durfte, da wurde wiederum ich oft eifersüchtig, besonders wenn ich wußte, daß Natalie allein mit Ilke und meinem Vater war. Ich weiß noch, ich hatte so große Angst, daß sie mir den Papa wegnehmen könnte, daß ich immer böse wurde, wenn ich das Gefühl hatte, daß alle sich nur um sie kümmerten. Außerdem fand ich es blöd, wenn sie alles anders machen wollte als ich und wenn ihr nicht die gleichen Sachen schmeckten wir mir. Auch, daß ihre Lieblingsfarbe nicht dieselbe war wie meine.
Ganz besonders schlimm fand ich es allerdings, als meine Mama sich zum ersten Mal anbot, daß wir Natalie auch mal zu uns nehmen könnten, denn eine Mama zu teilen, ist noch etwas ganz anderes. Aber als ich ihr sagte, daß ich nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte, wenn Natalie käme, lachte meine Mutter. Dann erklärte sie mir, daß sie mich doch auch teilen müsse, und zwar mit Papa und Ilke, und das sei gut so. Denn jeder Mensch braucht einen Vater und eine Mutter, und mache haben zum Glück sogar zwei.
Jetzt wird übrigens Natalie selbst bald acht, und wir werden alle feiern wie die Wilden - gemeinsam. Sie ist eine tolle kleine Schwester.
Tränen
Als ich acht Jahre alt wurde, weinte meine Mutter. Sie weinte natürlich nicht meinetwegen, dazu hatte sie mich viel zu lieb. Aber wie sich später herausstellen sollte, hatte sie sehr viel Grund zum Weinen. Jetzt bin ich schon sehr alt geworden, aber ich kann mich immer noch daran erinnern, wie das war, damals, als ich acht wurde. Das war der 30. Januar 1933.
Viele Erwachsene werden sofort wissen, was das für ein Tag war, aber ich erkläre es gerne allen Kindern, denn damals wußte ich es nicht, ich war ja noch ein Kind, und wußte auch noch nicht, warum meine Mutter weinte.
An dem Tag, ausgerechnet an meinem Geburtstag, kam nämlich ein sehr schlechter Mann an die Macht. Von da an begann eine schlimme Zeit für viele Menschen in Deutschland. Alle, die anders waren, z.B. wegen ihrer Herkunft, ihrer Hautfarbe oder ihres Glaubens, mußten leiden und wurden verfolgt, gequält und getötet. Viele Deutsche haben bei diesem Verfolgen und Morden mitgemacht. Schließlich trieben die schlechten Leute Deutschland in einen fürchterlichen Krieg, bei dem Millionen von Menschen vieler Länder ihr Leben lassen mußten.
Was ich auch noch nicht wußte, als ich acht war, das war, daß ich zehn Jahre später in diesen Krieg ziehen müßte und daß ich erleben würde, wie es ist, Menschen sterben zu sehen, neben mir, vor mir und hinter mir. Mit acht dachte ich noch, daß Soldaten Helden wären, denn ich spielte gern mit kleinen, bunt bemalten Figuren aus Zinn, die sich gegenseitig erschossen. Bumm, fielen sie um, und ich lachte. Als ich dann selbst Soldat war, da lachte ich nicht mehr, da weinte ich, auch wenn ich es niemandem zeigte.
Als ich wieder nach Hause zurückkehrte, war der Krieg schon zwei Jahre aus. Die zwei Jahre hatte ich als Kriegsgefangener in Frankreich verbracht. Das heißt, ich mußte für eines der Länder arbeiten, mit denen wir Deutschen einen Krieg angefangen hatten, als Strafe sozusagen. Dabei hatte mich niemand gefragt, ob ich in diesen Krieg ziehen wollte, aber ich traute mich nicht, mich zu wehren, denn wer sich wehrte, dem erging es schlecht.
Als ich dann wieder zuhause war, blühten die Narzissen in unserem Garten, aber von den Menschen fand ich nur noch meine Mutter wieder, sie saß vor dem Rest unseres von Bomben zerstörten Hauses. Sie war ganz schmächtig und grau, obwohl sie damals lange noch nicht so alt war wie ich heute, und sie konnte es kaum glauben, daß ihr Jüngster zurückgekommen war. Mein Vater und meine beiden Brüder waren im Krieg gefallen.
Das alles begann mit den Tränen meiner Mutter an meinem achten Geburtstag, und noch heute, nach so vielen Jahren, holen mich diese Tränen manchmal ein, an meinem Geburtstag. Nur daß ich sie jetzt weine.
Rüber
Als ich gerade acht geworden war, weckte mich meine Mutter eines Nachts und legte den Finger auf ihre Lippen. Sie hatte nur die kleine Lampe neben meinem Bett angemacht, hielt mir meine Sachen hin und flüsterte, daß ich mich rasch anziehen sollte und bloß Oma nicht wach machen. Ich tat wie mir geheißen, obwohl ich sonst nicht gerade ein besonders braves Kind war. Aber mal abgesehen davon, daß ich noch gar nicht richtig wach war, während ich mir die Sachen anzog, merkte ich auch, daß etwas ganz Besonders passierte, also hielt ich meinen Mund und folgte.
So leise wie möglich verließen wir schon wenig später das Haus und schritten durch die dunkle Nacht, meine Mutter mit zwei Koffern und ich mit einer Decke unter dem Arm, die sie mir zum Tragen gegeben hatte.
Wir liefen die ganze Strecke nach Säritz zu Fuß, und ich war so müde, daß mir andauernd die Augen zufallen wollten. Aber meine Mutter schob mich mit einem der Koffer sanft weiter.
Als wir am Bahnhof ankamen, war es schon etwas hell geworden. Der erste Zug nach Lübbenau stand auch schon am Gleis. Damals ging es noch etwas gemütlicher zu, wenn man Bahn fuhr, denn der Schaffner wartete schon mal auf einen. An diesem Morgen blickte er ziemlich erstaunt zu mir herunter und sah dann meine Mutter an.
“Ja, Frau Roßberg, schon so früh? Und Frank ist auch dabei?”
“Wir fahren zur Tante Lore nach Berlin!” rief meine Mutter fröhlich. Ich wußte sofort, daß da was nicht stimmen konnte, denn sonst hatten wir uns immer von Oma verabschiedet. Sie hatte uns sogar oft zum Bahnhof gebracht und uns nachgewinkt. Außerdem hatten Tante Johanna und Onkel Ernst uns immer etwas mitgegeben für die Tante Lore in Berlin oder uns aufgetragen, von dort etwas mitzubringen, was es bei uns am Ort nicht gab.
In Lübbenau stiegen wir um in den Schnellzug nach Berlin. Die Fahrt verging für mich wie im Flug, weil ich jedesmal, kaum daß die Räder losratterten, eingeschlafen war.
Auf dem Bahnhof in Berlin angekommen, suchte meine Mutter ganz offenbar nach irgendetwas, und wir liefen eine ganze Weile herum. Mir war kalt, aber ich traute mich nicht zu fragen, warum sie denn auf einmal den Weg zu Tante Lore vergessen hatte.
Plötzlich kamen Polizisten auf uns zu und fragten meine Mutter, wohin sie denn wolle. Sie erzählte von Tante Lore und nannte die Adresse.
Einer der Männer sah sie mißtrauisch an, dann warf er seinem Kollegen einen Blick zu, und der befahl uns, mitzukommen. Im hinteren Teil des Gleisbereiches hatten die Männer eine Wache, wo noch andere in Uniform herumsaßen. Jemand tippte etwas in eine Schreibmaschine, ein anderer füllte ein Formular für meine Mutter aus, das sie unterschreiben sollte.
Sie mußte ihren Ausweis und meinen Kinderausweis vorzeigen, dann wurden ihr immer wieder dieselben Fragen gestellt. Ob sie gewußt hätte, wohin manche der Züge an dem Bahnsteig führen. Ob sie vielleicht "rüber machen" wollte. Ob sie etwa auch die Gerüchte von einer Mauer glauben würde. Der Genosse Ulbricht hätte doch gesagt, daß das Blödsinn sei. Ob sie denn keine treue Staatsbürgerin sei. Und warum sie nicht gleich die richtige Bahn genommen habe.
Irgendwann gab ich mir einen Ruck.
“Kriege ich jetzt endlich mein Würstchen?” fragte ich so heulend wie mir zu Mute war, und drückte sogar ein paar Tränen hervor.
“Würstchen?” fragten die Beamten wie aus einem Mund.
“Ja!” sagte meine Mutter mit zittriger Stimme. “Der Junge wollte ein Würstchen nach der langen Fahrt. Danach haben wir doch die ganze Zeit gesucht!”
“Ein Würstchen!” lachte einer der Männer. “Na, gut! Dann kommen Sie mal mit!”
Er griff nach unseren Koffern und marschierte vor uns her zielstrebig auf eine kleine Würstchenbude am anderen Ende des Gleises zu.
“Warten Sie hier!” bellte er, als wir ihm nicht schnell genug folgten. Die restliche Strecke legte er, trotz der Koffer, in Riesenschritten zurück.
In diesem Moment kam eine hellgelbe Bahn an, in die keiner am Gleis einstieg und aus der auch keiner ausstieg. Im letzten Augenblick jedoch, als sich die Türen gerade wieder schließen wollten, schubste meine Mutter mich hinein und sprang, nur mit ihrer Handtasche am Arm, hinterher.
Ich habe meine Oma leider nicht mehr wieder sehen können, denn sie starb ein paar Jahre später. Die Mauer jedoch, von der damals niemand etwas wissen wollte, stand achtundzwanzig Jahre lang. Sie wurde am ab 13. August 1961 errichtet, auf den Tag genau ein Jahr nach unserer Flucht.
Ich erinnere mich immer noch an den Polizisten, wie er auf dem Bahnsteig stand, in der einen Hand die Würstchen, in der anderen unsere beiden Koffer, während meine Mutter, die mich fest an sich drückte, als die Bahn losfuhr, ihm lächelnd zuwinkte.
Molly
An meinem achten Geburtstag bekam ich einen Hund. Es war ein winzig kleines, schokofarbenes Wollknäuel mit einer glänzend schwarzen Nase, und es sah mich so lieb an, daß ich es nur an mich drücken konnte. Es war eine kleine Lady, und wir nannten sie Molly.
Sie bekam ein gelbes Halsband, das aus ihrem Fell herausleuchtete, daran hingen eine Hundemarke und ein kleines Glöckchen. In ihr rechtes Ohr bekam sie ein Tätowierung, damit niemand sie stehlen konnte.
Ich lernte Molly so sehr lieb haben, daß es mir schwer fiel, ohne sie irgend etwas zu unternehmen. Dabei mußte ich ganz viele Dinge ohne Molly tun, in die Schule gehen, zum Judo, zum Chor, zum Schachclub, zum Schwimmen.
Natürlich wußte ich, daß meine Mutter und auch mein kleiner Bruder gut auf Molly aufpassen würden, wenn ich weg war, aber ich hatte immer das Gefühl, nach Hause rennen zu müssen, auch als ich älter wurde. Molly wiederum wußte ganz genau, wann ich nach Hause kam, und so wußte es auch meine Mutter, denn Molly begann schon zu wedeln, wenn die letzte Schulstunde an einem Tag sich ihrem Ende zuneigte. Meine Mutter sagte immer, man könne glatt die Uhr nach dem Hund stellen.
Richtig aufgeregt wurde Molly, kaum daß ich in unsere Straße einbog, und wenn das Wetter es erlaubte, ließ meine Mutter sie häufig vor die Tür, damit sie mir die letzten Meter entgegen laufen konnte.
Wir wohnten in einer verkehrsarmen Seitenstraße am Stadtrand, und bei sonnigem Wetter pflegte ich lange Spaziergänge mit Molly über die angrenzenden Felder zu machen. Wenn es allerdings regnete, sah sie mich jedes Mal an, als verstünde sie die Welt nicht mehr, daß ich von ihr verlangte, sie solle rausgehen, wo man bekanntlich bei solch einem Wetter eben grade keinen Hund vor die Tür jagt. Raus mußte sie aber dennoch, und mit eingekniffenem Schwanz tat sie schließlich, wie ihr geheißen.
Einmal dachte ich, ich hätte Molly verloren, denn sie war wie immer von meiner Mutter vor die Tür gelassen worden, mir aber gar nicht begegnet. Als ich ins Haus kam, fragte meine Mutter erstaunt, wo ich denn den Hund gelassen hätte, und ich drehte auf dem Absatz um und lief die Straße entlang bis zum üblichen Treffpunkt. Und tatsächlich, Molly saß da. Eine blutende Pfote und eine verletzte Seite, hatte sie sich dennoch hier hergeschleppt, aber ich war schon weg gewesen.
Wir haben nie erfahren, was ihr passiert ist, ob sie doch von einem der seltenen, hier durchkommenden Autos angefahren worden war, oder sie jemand getreten hatte oder ob sie mit einem Wildtier aneinander geraten war. Der Tierarzt sagte, es sei allerhöchste Eisenbahn gewesen, sonst wäre sie für immer gegangen.
Molly ging erst, als ich alt genug wurde, das Elternhaus zu verlassen, da war sie schon sehr alt und grau und hatte ein blindes Auge. Manchmal frage ich mich, ob sie so lange gewartet hat, bis sie wußte, daß ich allein in die Welt ziehen konnte.
Paps
Als ich acht Jahre alt wurde, feierte ich meinen Geburtstag nicht.
Mein Vater, der nie krank gewesen war. Er hatte sich immer wohl gefühlt. Eines Tages jedoch war er zum Arzt gegangen, weil er dachte, er hätte sich den Magen verdorben. Der Arzt sagte ihm, er solle doch noch mal ins Krankenhaus gehen, um etwas zu überprüfen. Das war zum Ende der Sommerferien, und mein Geburtstag liegt Ende Oktober.
Mein Vater ging also ins Krankenhaus und wurde untersucht. Als der Arzt mit meiner Mutter sprach, was die Untersuchung ergeben hatte, war ich auch dabei, aber ich verstand kaum ein Wort. Es klang nach Onkel, was sie da sagten, aber daß das nicht sein konnte, war mir natürlich klar.
Auf jeden Fall merkte ich, daß es etwas Ernstes war, denn meine Mutter machte ein furchtbar erschrockenes Gesicht. Dann sprach der Arzt von einer Operation. Ich stellte mir vor, daß weiß gekleidete Männer mit Brillen und Hauben und mit Tüchern vor dem Mund, wie ich sie einmal auf einem Foto in der Zeitung gesehen hatte, um meinen Vater herum stehen würden und sich über ihn beugen, und mir wurde ganz schlecht bei dem Gedanken.
Die Operation fand schon am nächsten Tag statt, so eilig hatten es die Ärzte. Das bedeutete, daß ich meinen Vater vorher nur einmal besuchen konnte.
Er lag in seinem Bett und sah irgendwie seltsam aus, seine Haut war ganz gelb. Ich sagte nichts darüber, denn ich wollte ihn nicht beunruhigen.
“Na, Großer!? Schöne Scheiße, das hier, was?” sagte mein Vater und lächelte mich an.
“Hallo Paps!” brachte ich hervor und verstummte dann. Wirklich Scheiße, wollte ich noch sagen, aber ich kriegte es nicht heraus, sonst hätte ich sicher losgeheult, und das wollte ich auf gar keinen Fall.
Mein Vater redete dann wieder mit meiner Mutter über diese Onkeldinger, dann erzählte sie, das Sonja, meine kleine Schwester, bei der Nachbarin gut untergebracht sei. Schließlich gingen wir wieder, weil mein Vater plötzlich ganz erschöpft und müde aussah.
Am Tag nach der Operation riefen sie meine Mutter ins Krankenhaus. Ich mußte zur Schule, ob ich wollte oder nicht, aber was die Lehrerin damals erzählte, das habe ich nicht mitbekommen. Beim Mittagessen brachte ich kaum etwas herunter, und ich war froh, als der Hausaufgabenzirkel beendet war, und ich endlich nach Hause gehen konnte.
Als ich heim kam, war auch meine Mutter wieder da. Sie hatte Sonja gerade ins Bett gelegt, und mir sagte sie, ich solle mich ins Wohnzimmer setzten, damit sie mit mir reden könnte.
Sie setzte sich dann neben mich und sagte ganz leise, daß mein Paps gestorben sei, und zwar während der Operation. Sein Körper sei so angegriffen gewesen von der Krankheit, daß er die Anstrengungen bei dem schweren Eingriff nicht überlebt habe.
Ich habe es nicht geglaubt. Ich habe geschrien und geschimpft und ihr gesagt, daß sie mir meinen Paps bloß wegnehmen wollte, daß alle ihm was Böses tun wollten, vor allem diese Onkel, weil er doch sonst immer ganz gesund gewesen war. Und daß ich zum Krankenhaus gehen würde und ihn finden. Ich habe so laut geschrien, daß Sonja in ihrem Bettchen wach wurde und auch anfing zu schreien, und meine Mutter saß da und starrte vor sich hin.
Als mein Vater beerdigt wurde, da kamen viele Leute, die uns alle die Hand schütteln wollten und uns zumurmelten, wie leid es ihnen tat, aber ich war die ganze Zeit so wütend, daß ich sie am liebsten getreten hätte.
Dann kam der Herbst, und die Blätter fielen von den Bäumen.
In der Schule sammelten wir diese Blätter, die so schön bunt waren, und klebten sie in unsere Hefte, und die Lehrerin erzählte, daß jedes Jahr im Herbst die Bäume ihr Laub fallen ließen, und daß das immer schon so gewesen sei.
Während ich die Blätter in mein Heft klebte, wurde ich mit einmal Mal ganz furchtbar traurig und mußte an meinen Vater denken. Und da weinte ich zum ersten Mal.
Erst später erfuhr ich, daß die seltsamen Onkel in Wirklichkeit Onkologen waren, das heißt Ärzte, die Krebs behandeln.
An meinem achten Geburtstag war mir dann nicht zum Feiern zumute, und das Gefühl hielt auch noch sehr lange an.
Kalt
In dem Winter, als ich acht war, zogen wir nach Deutschland.
Zumindest denke ich, daß ich acht war, denn meine Mutter kann sich nur noch erinnern, daß es bei meiner Geburt geschneit hat, ein früher Winter in den anatolischen Bergen, so sagt sie. Das bedeutete, daß mein Vater erst im darauffolgenden Frühling in die Stadt kam, um meine Geburt zu melden, deswegen steht in meinem Paß ein Geburtsdatum Anfang März. Aber ich bin im Winter geboren, das ist sicher, und in dem Winter, als ich acht wurde, kamen wir nach Deutschland.
Obwohl ich den Winter kannte mit seinem Schnee und seinem klirrenden Frost, war mir nie zuvor so kalt gewesen wie in dieser ersten Zeit in Deutschland.
Wir zogen aus unserem kleinen Dorf, in dem ich nachts jedes Geräusch kannte, in eine dunkle und unheimliche Wohnung im vierten Stock eines Hauses in der Großstadt, in der mein Vater Arbeit gefunden hatte.
Weil ich noch kein Deutsch sprach, mußte ich anfangs mit meiner älteren Schwester zusammen an einem ganztägigen Deutschkurs teilnehmen, und dazu wir mußten jeden Morgen ganz früh mit der Straßenbahn fahren. Der Fahrer fuhr jedes Mal ohne uns los, wenn wir uns auch nur um eine Minute verspäteten, auch wenn er uns schon heranlaufen sah.
Wenn wir einkaufen gingen, dann warteten wir in einer ganz langen Schlange, bis die Kassiererin schließlich meiner Mutter ganz ungeduldig zusah, wie sie mühsam ihr Geld zusammen suchte.
Und als ich wenig später in eine deutsche Schule kam, wollten die Kinder in der Klasse kaum mit mir reden, und sie zogen jedes Mal ein Gesicht oder lachten, wenn ich etwas falsch aussprach. Am meisten wurde ich allerdings ausgelacht, weil ich nicht wußte, wie die Weihnachtsgeschichte ging.
Schnee gab es keinen in diesem Winter, dafür regnete es in einem fort, und ich dachte, das passe so gut zu meiner Stimmung, denn am liebsten hätte ich die ganze Zeit geweint.
Mein einziger Trost damals war der Vollmond, denn er war derselbe wie der in meinem Dorf, und er leuchtete genauso hell über der Stadt.
Wenn mich in dieser ersten Zeit jemand fragte, wie Deutschland denn so sei, dann sagte ich ganz spontan: kalt.
Sonne
Als ich acht war, reiste ich zum ersten Mal nach Israel. Von jeher fühlten sich meine Eltern sich mit diesem Land verbunden, obwohl wir keine Juden sind und auch keine Verwandten im Land haben.
Mein Vater war nicht bei der Bundeswehr gewesen, sondern hatte ein Jahr lang in Jerusalem für den Frieden gearbeitet und dabei Land, Menschen und Sprache gut kennen gelernt, und meine Mutter hatte eine langjährige Brieffreundschaft dort hingeführt.
So reisten sie dann auch mit uns Kindern wieder dort hin, obwohl unsere Großmutter immer vor Angst zitterte, daß uns dort etwas zustoßen könnte. Daß ihre Angst nicht unberechtigt war, stellten wir gleich bei diesem ersten Besuch fest.
Auch wir Kinder wußten natürlich schon, daß es in Israel viel Streit gab zwischen den Menschen dort, zwischen den Israelis und den Palästinensern, obwohl wir nie so ganz verstanden, warum das so sein mußte. Alles war dort so wunderschön, die saftigsten Orangen hingen fast bis zum Boden und die Palmen ragten hoch in den Himmel und warfen ihre reifen Datteln direkt vor unsere Füße, frisch und süß.
Dann sahen wir die alten Busse der Palästinenser und die neuen Busse der Israelis und dachten, daß die wohl unterschiedlich reich sein mußten. Und wir sahen, wie ein Palästinenser in der Altstadt von Jerusalem von israelischen Soldaten weggeschleppt wurde. Das sah so fürchterlich aus, daß ich anfing zu weinen, und ich heule sonst nie, obwohl ich ein Mädchen bin.
Später sahen wir, daß palästinensische Jugendliche mit einer bunten Fahne herumliefen und auf israelische Soldaten mit Steinen warfen. Und als wir dann nach Haifa fuhren und an der zentralen Busstation ausstiegen, da knallte es plötzlich in nächster Nähe so laut, daß ich aufschrie. Eine Bombe!
Alle Umstehenden rannten los in Richtung des Knalls, und weiß noch, daß ich dachte, wie mutig die wären. Ich sagte dies damals zu meinem Bruder und der lachte bloß. Da wo es gerade geknallt hat, ist es doch am sichersten, sagte er.
Verstanden habe ich von dem Streit der Israelis und Palästinenser damals wie gesagt nicht viel, nur dass sie gegen einander kämpften, und daß wir, die wir nicht dort wohnen, alles gar nicht beurteilen können.
Da ich, sommersprossig und rothaarig wie ich nun mal bin, nicht gerne brutzele wie ein Spiegelei, kämpfte ich dort einen ganz anderen Kampf. Ich versuchte, der Sonne zu entkommen.
Das Schwimmen im Roten Meer war wundervoll, besonders das Schnorcheln in den Korallen. Das Baden im Toten Meer war lustig und beängstigend zugleich, weil man kaum vorwärts kam, und das Süßwasser des Sees Genezareth war angenehm warm und mild, obwohl es nur noch so wenig Wasser gab in diesem Sommer, daß mein Bruder grinsend sagte, wenn da mal einer rübergelatscht sei, dann könne ihm das ja nicht besonders schwer gefallen sein, so flach wie der See ist.
Und bei alle diesen Gelegenheiten war ich stets bemüht, der Sonne zu entwischen, die es mir wirklich nicht leicht machte.
Dann kam mir der Zufall zu Hilfe, weil die alte Brieffreundin meiner Mutter in einen Moshav gezogen war. Die Eltern erklärten uns, daß ein Moshav eine Art Dorf ist, in dem alle Leute zusammenarbeiten und gemeinsam ihre Kinder aufziehen.
Als wir zu dem Moshav kamen, sahen wir, daß dort nicht nur Israelis wohnten, sondern auch Palästinenser, und nicht nur das. Bei näherem Hinschauen wurde es noch viel komplizierter. Dort wohnten jüdische Israelis und christliche Israelis und muslimische Israelis, sie hatten alle unterschiedliche Ideen und unterschiedlichen Glauben und auch unterschiedliche Herkunft, aber sie fühlten sich alle mit demselben Land verbunden und wollten in Frieden mit einander leben.
Auch vieles davon begriff ich erst Jahre später, aber der Moshav hatte so viele schöne schattige Plätzchen, daß ich so zufrieden war wie nie zuvor.
Wir verbrachten noch einige Ferien in Israel, obwohl die Dinge dort seit dem immer schwieriger geworden sind; wir fuhren immer wieder gern in den Moshav. Jene erste Reise aber blieb mir am meisten im Gedächtnis.
Auf dem Rückflug kamen mir damals plötzlich die Tränen. Neben mir saß ein älterer Herr, und als er sah, daß ich weinte, fragte er, was denn nur los sei, ob ich etwas da ließe in Israel. Und ausgerechnet ich sagte schluchzend: die Sonne.
Du liebe Zeit, sagte der Mann, die Sonne, immer diese Sonne. Ich hoffe nur, es regnet in Frankfurt!
Leben
Meine Eltern waren entschlossene Südfrankreichliebhaber. Diese Entschlossenheit brachte sie trotz unserer Nörgeleien jeden Sommer wieder auf die Straße, die uns eintausendfünfhunderteinundsechzig Kilometer nach Süden bringen sollte, wo wir in zwei einfachen Zelten drei Wochen auf harter Luft schliefen und uns von Tomaten und Käse ernährten. Wir brachten die Strecke in einem orangefarbenen VW Käfer hinter uns, zwei Erwachsene, zwei Kinder und ein Hund. So auch, als ich acht war, und in dem Jahr geschah es dann, daß auch ich Südfrankreich lieben lernte.
Auf der Landstraße Richtung Perpignan, einem Städtchen nahe der spanischen Grenze, hielten wir auf der damaligen Hinfahrt an, um uns ein wenig die Beine zu vertreten, und bestimmt auch, weil mein Bruder schon wieder was essen oder trinken mußte.
Ein paar der Leute, die sich dort aufhielten und auf mich wirkten wie bösartige alte Vogelscheuchen, beobachteten uns mit unbeweglicher Miene, als wir aus dem Auto stiegen. Ich wäre am liebsten gleich wieder weitergefahren. Haben die denn nichts zu tun, fragte ich mißmutig, wie lange müssen wir denn hier bleiben, und: ich hab doch gar keinen Hunger. Meine Mutter ging nicht auf mein Gestöhne ein, sondern schlug einen kurzen Spaziergang vor. Wir ließen meinen Bruder und meinen Vater wie so oft kauend beim Auto zurück, nahmen unseren Larkim an die Leine und gingen los. Wir spazierten die Straße entlang, am Zaun eines Bauernhofes vorbei, vor dem ein alter Mann auf einem kleinen Holzschemel saß und vor sich hinstarrte.
Genau in diesem Moment hüpfte ein kleines Küken durch eine Lücke im Zaun und war auf dem Weg Richtung Straße. Ich tat einen kleinen Schrei und hielt Larkim ganz fest, und meine Mutter machte ein paar Schritte und fing das ängstliche kleine Wesen ein. Sie barg es schützend in ihrer Hand und strahlte, als sie es mir zeigte, dann setzte sie es durch die Zaunlücke vorsichtig zurück auf den Hof. Wir freuten uns und hätten am liebsten die ganze Welt umarmt, und selbst Larkim sah froh aus, doch da sahen wir, wie im selben Moment unser Küken seinen letzten Atemzug tat. Die Katze des Hofes hatte das zarte Dinge erwischt, mit Haut und Federflaum. Da drückte ich Larkim weinend an mich, und er hielt ganz still, als wüßte er genau, was gerade passiert war. Meine Mutter stand ebenso unbeweglich da und auch ihr rollten Tränen über die Wangen.
Plötzlich stand der alte Mann hinter uns, der reglos auf dem Schemel gesessen hatte Er sah mich an und dann meiner Mutter ins Gesicht. Schließlich legte er ihr seine faltige, knochige Hand auf die Schulter und sagte heiser: C'est la vie.
Wie der alte Mann so dastand und meine Mutter tröstete, da wußte ich, was das bedeutet, c'est la vie, obwohl ich gar nicht Französisch sprach.
© 2001,9,20
(Page 1 of 1, totaling 1 entries)